Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.schlachts, wir haben sonst nichts für die Gäste." Da ging der Koch hin und holte das Lämmchen und führte es in die Küche, band ihm die Füßchen, das litt es alles geduldig. Wie er nun sein Messer herausgezogen hatte und auf der Schwelle wetzte, um es abzustechen, sah es, wie ein Fischlein in dem Wasser vor dem Gossenstein hin- und herschwamm und zu ihm hinaufblickte. Das war aber das Brüderchen, denn als das Fischchen gesehen hatte, wie der Koch das Lämmchen fortführte, war es mitgeschwommen im Teich bis zum Haus. Da rief das Lämmchen hinab: "Ach Brüderchen im tiefen See!
wie thut mir doch mein Herz so weh! der Koch der wetzt das Messer, will mir mein Herz durchstechen!" Das Fischchen antwortete: "Ach Schwesterchen in der Höh,
wie thut mir doch mein Herz so weh in dieser tiefen See!" Wie der Koch hörte, daß das Lämmchen sprechen konnte und so traurige Worte zu dem Fischchen hinabrief, erschrak er und dachte, es müßte kein natürliches Lämmchen seyn, sondern von der bösen Frau im Haus verwünscht. Da sprach er: "sey ruhig, ich will dich nicht schlachten," nahm ein anderes Thier und bereitete das für die Gäste und brachte das Lämmchen zu einer guten Bäuerin, der erzählte er alles, was er gesehen und gehört hatte. Die Bäuerin war aber gerade die Amme von dem Schwesterchen gewesen, vermuthete gleich, wer's seyn würde, und ging schlachts, wir haben sonst nichts fuͤr die Gaͤste.“ Da ging der Koch hin und holte das Laͤmmchen und fuͤhrte es in die Kuͤche, band ihm die Fuͤßchen, das litt es alles geduldig. Wie er nun sein Messer herausgezogen hatte und auf der Schwelle wetzte, um es abzustechen, sah es, wie ein Fischlein in dem Wasser vor dem Gossenstein hin- und herschwamm und zu ihm hinaufblickte. Das war aber das Bruͤderchen, denn als das Fischchen gesehen hatte, wie der Koch das Laͤmmchen fortfuͤhrte, war es mitgeschwommen im Teich bis zum Haus. Da rief das Laͤmmchen hinab: „Ach Bruͤderchen im tiefen See!
wie thut mir doch mein Herz so weh! der Koch der wetzt das Messer, will mir mein Herz durchstechen!“ Das Fischchen antwortete: „Ach Schwesterchen in der Hoͤh,
wie thut mir doch mein Herz so weh in dieser tiefen See!“ Wie der Koch hoͤrte, daß das Laͤmmchen sprechen konnte und so traurige Worte zu dem Fischchen hinabrief, erschrak er und dachte, es muͤßte kein natuͤrliches Laͤmmchen seyn, sondern von der boͤsen Frau im Haus verwuͤnscht. Da sprach er: „sey ruhig, ich will dich nicht schlachten,“ nahm ein anderes Thier und bereitete das fuͤr die Gaͤste und brachte das Laͤmmchen zu einer guten Baͤuerin, der erzaͤhlte er alles, was er gesehen und gehoͤrt hatte. Die Baͤuerin war aber gerade die Amme von dem Schwesterchen gewesen, vermuthete gleich, wer’s seyn wuͤrde, und ging <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0333" n="255"/> schlachts, wir haben sonst nichts fuͤr die Gaͤste.“ Da ging der Koch hin und holte das Laͤmmchen und fuͤhrte es in die Kuͤche, band ihm die Fuͤßchen, das litt es alles geduldig. Wie er nun sein Messer herausgezogen hatte und auf der Schwelle wetzte, um es abzustechen, sah es, wie ein Fischlein in dem Wasser vor dem Gossenstein hin- und herschwamm und zu ihm hinaufblickte. Das war aber das Bruͤderchen, denn als das Fischchen gesehen hatte, wie der Koch das Laͤmmchen fortfuͤhrte, war es mitgeschwommen im Teich bis zum Haus. Da rief das Laͤmmchen hinab:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Ach Bruͤderchen im tiefen See!</l><lb/> <l>wie thut mir doch mein Herz so weh!</l><lb/> <l>der Koch der wetzt das Messer,</l><lb/> <l>will mir mein Herz durchstechen!“</l><lb/> </lg> <p>Das Fischchen antwortete:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Ach Schwesterchen in der Hoͤh,</l><lb/> <l>wie thut mir doch mein Herz so weh</l><lb/> <l>in dieser tiefen See!“</l><lb/> </lg> <p>Wie der Koch hoͤrte, daß das Laͤmmchen sprechen konnte und so traurige Worte zu dem Fischchen hinabrief, erschrak er und dachte, es muͤßte kein natuͤrliches Laͤmmchen seyn, sondern von der boͤsen Frau im Haus verwuͤnscht. Da sprach er: „sey ruhig, ich will dich nicht schlachten,“ nahm ein anderes Thier und bereitete das fuͤr die Gaͤste und brachte das Laͤmmchen zu einer guten Baͤuerin, der erzaͤhlte er alles, was er gesehen und gehoͤrt hatte. Die Baͤuerin war aber gerade die Amme von dem Schwesterchen gewesen, vermuthete gleich, wer’s seyn wuͤrde, und ging </p> </div> </body> </text> </TEI> [255/0333]
schlachts, wir haben sonst nichts fuͤr die Gaͤste.“ Da ging der Koch hin und holte das Laͤmmchen und fuͤhrte es in die Kuͤche, band ihm die Fuͤßchen, das litt es alles geduldig. Wie er nun sein Messer herausgezogen hatte und auf der Schwelle wetzte, um es abzustechen, sah es, wie ein Fischlein in dem Wasser vor dem Gossenstein hin- und herschwamm und zu ihm hinaufblickte. Das war aber das Bruͤderchen, denn als das Fischchen gesehen hatte, wie der Koch das Laͤmmchen fortfuͤhrte, war es mitgeschwommen im Teich bis zum Haus. Da rief das Laͤmmchen hinab:
„Ach Bruͤderchen im tiefen See!
wie thut mir doch mein Herz so weh!
der Koch der wetzt das Messer,
will mir mein Herz durchstechen!“
Das Fischchen antwortete:
„Ach Schwesterchen in der Hoͤh,
wie thut mir doch mein Herz so weh
in dieser tiefen See!“
Wie der Koch hoͤrte, daß das Laͤmmchen sprechen konnte und so traurige Worte zu dem Fischchen hinabrief, erschrak er und dachte, es muͤßte kein natuͤrliches Laͤmmchen seyn, sondern von der boͤsen Frau im Haus verwuͤnscht. Da sprach er: „sey ruhig, ich will dich nicht schlachten,“ nahm ein anderes Thier und bereitete das fuͤr die Gaͤste und brachte das Laͤmmchen zu einer guten Baͤuerin, der erzaͤhlte er alles, was er gesehen und gehoͤrt hatte. Die Baͤuerin war aber gerade die Amme von dem Schwesterchen gewesen, vermuthete gleich, wer’s seyn wuͤrde, und ging
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.
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