Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

fragte 'Zweiäuglein, was weinst du?' Zweiäuglein antwortete 'soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte schlechte Kleider hin, und geben mir nichts zu essen als was sie übrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.' Sprach die weise Frau 'Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege

'Zicklein, meck,
Tischlein deck,'

so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen, und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist, und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur

'Zicklein meck,
Tischlein weg,'

so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.' Darauf gieng die weise Frau fort. Zweiäuglein aber dachte 'ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, war sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr,' und sprach

'Zicklein, meck,
Tischlein deck,'

und kaum hatte es die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und Löffel, und die schönsten Speisen

fragte ‘Zweiaͤuglein, was weinst du?’ Zweiaͤuglein antwortete ‘soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so koͤnnen mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte schlechte Kleider hin, und geben mir nichts zu essen als was sie uͤbrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.’ Sprach die weise Frau ‘Zweiaͤuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege

‘Zicklein, meck,
Tischlein deck,’

so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen, und das schoͤnste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist, und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur

‘Zicklein meck,
Tischlein weg,’

so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.’ Darauf gieng die weise Frau fort. Zweiaͤuglein aber dachte ‘ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, war sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr,’ und sprach

‘Zicklein, meck,
Tischlein deck,’

und kaum hatte es die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tuͤchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und Loͤffel, und die schoͤnsten Speisen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0250" n="234"/>
fragte &#x2018;Zweia&#x0364;uglein, was weinst du?&#x2019; Zweia&#x0364;uglein antwortete &#x2018;soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so ko&#x0364;nnen mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte schlechte Kleider hin, und geben mir nichts zu essen als was sie u&#x0364;brig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.&#x2019; Sprach die weise Frau &#x2018;Zweia&#x0364;uglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Zicklein, meck,</l><lb/>
          <l>Tischlein deck,&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen, und das scho&#x0364;nste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist, und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Zicklein meck,</l><lb/>
          <l>Tischlein weg,&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.&#x2019; Darauf gieng die weise Frau fort. Zweia&#x0364;uglein aber dachte &#x2018;ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, war sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr,&#x2019; und sprach</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Zicklein, meck,</l><lb/>
          <l>Tischlein deck,&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>und kaum hatte es die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tu&#x0364;chlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und Lo&#x0364;ffel, und die scho&#x0364;nsten Speisen
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0250] fragte ‘Zweiaͤuglein, was weinst du?’ Zweiaͤuglein antwortete ‘soll ich nicht weinen! weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so koͤnnen mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich herum, werfen mir alte schlechte Kleider hin, und geben mir nichts zu essen als was sie uͤbrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.’ Sprach die weise Frau ‘Zweiaͤuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege ‘Zicklein, meck, Tischlein deck,’ so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen, und das schoͤnste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist, und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur ‘Zicklein meck, Tischlein weg,’ so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.’ Darauf gieng die weise Frau fort. Zweiaͤuglein aber dachte ‘ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, war sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr,’ und sprach ‘Zicklein, meck, Tischlein deck,’ und kaum hatte es die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tuͤchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und Loͤffel, und die schoͤnsten Speisen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Staatsbibliothek zu Berlin: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/250
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/250>, abgerufen am 21.11.2024.