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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837.

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Jch bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben als ich noch in zarter Jugend war, und empfahlen mich in ihrem letzten Willen meinem ältern Bruder, bei dem ich auferzogen wurde. Wir liebten uns so zärtlich, und waren so übereinstimmend in unserer Denkungsart und unsern Neigungen, daß wir beide den Entschluß faßten uns niemals zu verheirathen, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben. Jn unserm Hause war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns häufig, und wir übten gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Maße. So geschah es auch eines Abends, daß ein Fremder in unser Schloß geritten kam, und unter dem Vorgeben den nächsten Ort nicht mehr erreichen zu können um ein Nachtlager bat. Wir gewährten seine Bitte mit zuvorkommender Höflichkeit, und er unterhielt uns während des Abendessens mit seinem Gespräche und eingemischten Erzählungen auf das anmuthigste. Mein Bruder hatte ein so großes Wohlgefallen an ihm, daß er ihn bat ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spät in der Nacht von Tische auf, dem Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermüdet wie ich war, meine Glieder in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich die Töne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte woher sie kämen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermädchen rufen, allein zu meinem Erstaunen fand ich daß mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust, von einer unbekannten Gewalt die Sprache benommen

Jch bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben als ich noch in zarter Jugend war, und empfahlen mich in ihrem letzten Willen meinem aͤltern Bruder, bei dem ich auferzogen wurde. Wir liebten uns so zaͤrtlich, und waren so uͤbereinstimmend in unserer Denkungsart und unsern Neigungen, daß wir beide den Entschluß faßten uns niemals zu verheirathen, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben. Jn unserm Hause war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns haͤufig, und wir uͤbten gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Maße. So geschah es auch eines Abends, daß ein Fremder in unser Schloß geritten kam, und unter dem Vorgeben den naͤchsten Ort nicht mehr erreichen zu koͤnnen um ein Nachtlager bat. Wir gewaͤhrten seine Bitte mit zuvorkommender Hoͤflichkeit, und er unterhielt uns waͤhrend des Abendessens mit seinem Gespraͤche und eingemischten Erzaͤhlungen auf das anmuthigste. Mein Bruder hatte ein so großes Wohlgefallen an ihm, daß er ihn bat ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spaͤt in der Nacht von Tische auf, dem Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermuͤdet wie ich war, meine Glieder in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich die Toͤne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte woher sie kaͤmen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermaͤdchen rufen, allein zu meinem Erstaunen fand ich daß mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust, von einer unbekannten Gewalt die Sprache benommen

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[336/0352] Jch bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben als ich noch in zarter Jugend war, und empfahlen mich in ihrem letzten Willen meinem aͤltern Bruder, bei dem ich auferzogen wurde. Wir liebten uns so zaͤrtlich, und waren so uͤbereinstimmend in unserer Denkungsart und unsern Neigungen, daß wir beide den Entschluß faßten uns niemals zu verheirathen, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben. Jn unserm Hause war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns haͤufig, und wir uͤbten gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Maße. So geschah es auch eines Abends, daß ein Fremder in unser Schloß geritten kam, und unter dem Vorgeben den naͤchsten Ort nicht mehr erreichen zu koͤnnen um ein Nachtlager bat. Wir gewaͤhrten seine Bitte mit zuvorkommender Hoͤflichkeit, und er unterhielt uns waͤhrend des Abendessens mit seinem Gespraͤche und eingemischten Erzaͤhlungen auf das anmuthigste. Mein Bruder hatte ein so großes Wohlgefallen an ihm, daß er ihn bat ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spaͤt in der Nacht von Tische auf, dem Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermuͤdet wie ich war, meine Glieder in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich die Toͤne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte woher sie kaͤmen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermaͤdchen rufen, allein zu meinem Erstaunen fand ich daß mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust, von einer unbekannten Gewalt die Sprache benommen

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/352>, abgerufen am 22.11.2024.