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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.

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'liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.' Da lachten sie, und sprachen 'das können wir dir wohl geben, wenn du weiter nichts willst.' Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide, und vergrubs Abends in aller Stille nach dem Rathe der weisen Frau vor die Hausthüre.

Am andern Morgen, als sie insgesammt erwachten und vor die Hausthüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hiengen dazwischen, daß wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der Welt zu sehen war. Sie wußten aber nicht wie der Baum auf einmal in der Nacht gewachsen war, nur Zweiäuglein merkte es, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgesproßt war, denn er stand gerade da, wo es sie hinbegraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein 'steig hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab.' Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen, und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen wie es wollte. Da sprach die Mutter 'Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.' Einäuglein rutschte herunter, und Dreiäuglein stieg hinauf: aber Dreiäuglein war nicht geschickter, und mochte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich ward die Mutter ungeduldig, und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen, und griff immer in die leere

‘liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.’ Da lachten sie, und sprachen ‘das können wir dir wohl geben, wenn du weiter nichts willst.’ Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide, und vergrubs Abends in aller Stille nach dem Rathe der weisen Frau vor die Hausthüre.

Am andern Morgen, als sie insgesammt erwachten und vor die Hausthüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hiengen dazwischen, daß wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der Welt zu sehen war. Sie wußten aber nicht wie der Baum auf einmal in der Nacht gewachsen war, nur Zweiäuglein merkte es, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgesproßt war, denn er stand gerade da, wo es sie hinbegraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein ‘steig hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab.’ Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen, und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen wie es wollte. Da sprach die Mutter ‘Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.’ Einäuglein rutschte herunter, und Dreiäuglein stieg hinauf: aber Dreiäuglein war nicht geschickter, und mochte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich ward die Mutter ungeduldig, und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen, und griff immer in die leere

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[251/0261] ‘liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.’ Da lachten sie, und sprachen ‘das können wir dir wohl geben, wenn du weiter nichts willst.’ Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide, und vergrubs Abends in aller Stille nach dem Rathe der weisen Frau vor die Hausthüre. Am andern Morgen, als sie insgesammt erwachten und vor die Hausthüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hiengen dazwischen, daß wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der Welt zu sehen war. Sie wußten aber nicht wie der Baum auf einmal in der Nacht gewachsen war, nur Zweiäuglein merkte es, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgesproßt war, denn er stand gerade da, wo es sie hinbegraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein ‘steig hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab.’ Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen, und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen wie es wollte. Da sprach die Mutter ‘Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.’ Einäuglein rutschte herunter, und Dreiäuglein stieg hinauf: aber Dreiäuglein war nicht geschickter, und mochte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich ward die Mutter ungeduldig, und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen, und griff immer in die leere

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/261>, abgerufen am 22.12.2024.