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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.

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behilflich sein könnten?' 'Nein' antwortete der Bauer; 'ich habe freilich einen Sohn gehabt, aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungerathner Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen, und machte lauter böse Streiche: zuletzt lief er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört.' Der Alte nahm ein junges Bäumchen, setzte es in ein Loch, und stieß einen Pfahl daneben: und als er Erde hineingeschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. 'Aber sagt mir,' sprach der Herr 'warum bindet ihr den krummen knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auf den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl, wie diesen, damit er strack wächst?' Der Alte lächelte und sagte 'Herr, ihr redet wie ihrs versteht: man sieht wohl daß ihr euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. Der Baum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen. Bäume muß man ziehen, so lange sie jung sind.' 'Es ist wie bei euerm Sohn,' sagte der Fremde, 'hättet ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein.' 'Freilich,' antwortete der Alte, 'es ist schon lange seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben.' 'Würdet ihr ihn noch erkennen, wenn er vor euch träte?' fragte der Fremde. 'Am Gesicht schwerlich,' antwortete der Bauer, 'aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auf der Schulter, das wie eine Bohne aussieht.' Bei diesen Worten zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schulter, und zeigte dem

behilflich sein könnten?’ ‘Nein’ antwortete der Bauer; ‘ich habe freilich einen Sohn gehabt, aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungerathner Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen, und machte lauter böse Streiche: zuletzt lief er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört.’ Der Alte nahm ein junges Bäumchen, setzte es in ein Loch, und stieß einen Pfahl daneben: und als er Erde hineingeschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. ‘Aber sagt mir,’ sprach der Herr ‘warum bindet ihr den krummen knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auf den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl, wie diesen, damit er strack wächst?’ Der Alte lächelte und sagte ‘Herr, ihr redet wie ihrs versteht: man sieht wohl daß ihr euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. Der Baum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen. Bäume muß man ziehen, so lange sie jung sind.’ ‘Es ist wie bei euerm Sohn,’ sagte der Fremde, ‘hättet ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein.’ ‘Freilich,’ antwortete der Alte, ‘es ist schon lange seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben.’ ‘Würdet ihr ihn noch erkennen, wenn er vor euch träte?’ fragte der Fremde. ‘Am Gesicht schwerlich,’ antwortete der Bauer, ‘aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auf der Schulter, das wie eine Bohne aussieht.’ Bei diesen Worten zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schulter, und zeigte dem

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[479/0489] behilflich sein könnten?’ ‘Nein’ antwortete der Bauer; ‘ich habe freilich einen Sohn gehabt, aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungerathner Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen, und machte lauter böse Streiche: zuletzt lief er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört.’ Der Alte nahm ein junges Bäumchen, setzte es in ein Loch, und stieß einen Pfahl daneben: und als er Erde hineingeschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. ‘Aber sagt mir,’ sprach der Herr ‘warum bindet ihr den krummen knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auf den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl, wie diesen, damit er strack wächst?’ Der Alte lächelte und sagte ‘Herr, ihr redet wie ihrs versteht: man sieht wohl daß ihr euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. Der Baum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen. Bäume muß man ziehen, so lange sie jung sind.’ ‘Es ist wie bei euerm Sohn,’ sagte der Fremde, ‘hättet ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein.’ ‘Freilich,’ antwortete der Alte, ‘es ist schon lange seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben.’ ‘Würdet ihr ihn noch erkennen, wenn er vor euch träte?’ fragte der Fremde. ‘Am Gesicht schwerlich,’ antwortete der Bauer, ‘aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auf der Schulter, das wie eine Bohne aussieht.’ Bei diesen Worten zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schulter, und zeigte dem

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/489>, abgerufen am 22.12.2024.