Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850.Augen wieder. Wenn das die Blinden wüßten, wie mancher könnte sein Gesicht wieder haben, der nicht glaubt daß das möglich sei.' Als der Schneider das hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es auf das Gras, und als es mit dem Thau befeuchtet war, wusch er seine Augenhöhlen damit. Alsbald gieng in Erfüllung was der Gehenkte gesagt hatte, und ein paar frische und gesunde Augen füllten die Höhlen. Es dauerte nicht lange, so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen: vor ihm in der Ebene lag die große Königsstadt mit ihren prächtigen Thoren und hundert Thürmen, und die goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen, fiengen an zu glühen. Er unterschied jedes Blatt an den Bäumen, erblickte die Vögel, die vorbei flogen, und die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel aus der Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte, so gut als er es je gekonnt hatte, so sprang sein Herz vor Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die erwiesene Gnade und sprach seinen Morgensegen: er vergaß auch nicht für die armen Sünder zu bitten, die da hiengen, wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander schlug. Dann nahm er seinen Bündel auf den Rücken, vergaß bald das ausgestandene Herzeleid und gieng unter Singen und Pfeifen weiter. Das erste was ihm begegnete, war ein braunes Füllen, das frei im Felde herumsprang. Er packte es an der Mähne, wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen aber bat um seine Freiheit: 'ich bin noch zu jung,' sprach es, 'auch ein leichter Schneider wie du bricht mir den Rücken entzwei, laß mich laufen Augen wieder. Wenn das die Blinden wüßten, wie mancher könnte sein Gesicht wieder haben, der nicht glaubt daß das möglich sei.’ Als der Schneider das hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es auf das Gras, und als es mit dem Thau befeuchtet war, wusch er seine Augenhöhlen damit. Alsbald gieng in Erfüllung was der Gehenkte gesagt hatte, und ein paar frische und gesunde Augen füllten die Höhlen. Es dauerte nicht lange, so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen: vor ihm in der Ebene lag die große Königsstadt mit ihren prächtigen Thoren und hundert Thürmen, und die goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen, fiengen an zu glühen. Er unterschied jedes Blatt an den Bäumen, erblickte die Vögel, die vorbei flogen, und die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel aus der Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte, so gut als er es je gekonnt hatte, so sprang sein Herz vor Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die erwiesene Gnade und sprach seinen Morgensegen: er vergaß auch nicht für die armen Sünder zu bitten, die da hiengen, wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander schlug. Dann nahm er seinen Bündel auf den Rücken, vergaß bald das ausgestandene Herzeleid und gieng unter Singen und Pfeifen weiter. Das erste was ihm begegnete, war ein braunes Füllen, das frei im Felde herumsprang. Er packte es an der Mähne, wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen aber bat um seine Freiheit: ‘ich bin noch zu jung,’ sprach es, ‘auch ein leichter Schneider wie du bricht mir den Rücken entzwei, laß mich laufen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0136" n="124"/> Augen wieder. Wenn das die Blinden wüßten, wie mancher könnte sein Gesicht wieder haben, der nicht glaubt daß das möglich sei.’ Als der Schneider das hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es auf das Gras, und als es mit dem Thau befeuchtet war, wusch er seine Augenhöhlen damit. Alsbald gieng in Erfüllung was der Gehenkte gesagt hatte, und ein paar frische und gesunde Augen füllten die Höhlen. Es dauerte nicht lange, so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen: vor ihm in der Ebene lag die große Königsstadt mit ihren prächtigen Thoren und hundert Thürmen, und die goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen, fiengen an zu glühen. Er unterschied jedes Blatt an den Bäumen, erblickte die Vögel, die vorbei flogen, und die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel aus der Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte, so gut als er es je gekonnt hatte, so sprang sein Herz vor Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die erwiesene Gnade und sprach seinen Morgensegen: er vergaß auch nicht für die armen Sünder zu bitten, die da hiengen, wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander schlug. Dann nahm er seinen Bündel auf den Rücken, vergaß bald das ausgestandene Herzeleid und gieng unter Singen und Pfeifen weiter.</p><lb/> <p>Das erste was ihm begegnete, war ein braunes Füllen, das frei im Felde herumsprang. Er packte es an der Mähne, wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen aber bat um seine Freiheit: ‘ich bin noch zu jung,’ sprach es, ‘auch ein leichter Schneider wie du bricht mir den Rücken entzwei, laß mich laufen </p> </div> </body> </text> </TEI> [124/0136]
Augen wieder. Wenn das die Blinden wüßten, wie mancher könnte sein Gesicht wieder haben, der nicht glaubt daß das möglich sei.’ Als der Schneider das hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es auf das Gras, und als es mit dem Thau befeuchtet war, wusch er seine Augenhöhlen damit. Alsbald gieng in Erfüllung was der Gehenkte gesagt hatte, und ein paar frische und gesunde Augen füllten die Höhlen. Es dauerte nicht lange, so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen: vor ihm in der Ebene lag die große Königsstadt mit ihren prächtigen Thoren und hundert Thürmen, und die goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen, fiengen an zu glühen. Er unterschied jedes Blatt an den Bäumen, erblickte die Vögel, die vorbei flogen, und die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel aus der Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte, so gut als er es je gekonnt hatte, so sprang sein Herz vor Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die erwiesene Gnade und sprach seinen Morgensegen: er vergaß auch nicht für die armen Sünder zu bitten, die da hiengen, wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander schlug. Dann nahm er seinen Bündel auf den Rücken, vergaß bald das ausgestandene Herzeleid und gieng unter Singen und Pfeifen weiter.
Das erste was ihm begegnete, war ein braunes Füllen, das frei im Felde herumsprang. Er packte es an der Mähne, wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen aber bat um seine Freiheit: ‘ich bin noch zu jung,’ sprach es, ‘auch ein leichter Schneider wie du bricht mir den Rücken entzwei, laß mich laufen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-06-03T16:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |