Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach 'ei, Dreiäuglein, bist du eingeschlafen? du kannst gut hüten! komm, wir wollen heim gehen.' Und als sie nach Haus kamen, aß Zweiäuglein wieder nicht, und Dreiäuglein sprach zur Mutter 'ich weiß nun warum das hochmüthige Ding nicht ißt: wenn sie draußen zur Ziege spricht

'Zicklein, meck,
Tischlein, deck,'

so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser als wirs hier haben: und wenn sie satt ist, so spricht sie

'Zicklein, meck,
Tischlein, weg,'

und alles ist wieder verschwunden; ich habe alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne, das war zum Glück wach geblieben.' Da rief die neidische Mutter 'willst dus besser haben, als wir? die Lust soll dir vergehen!' Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, daß sie todt hinfiel.

Als Zweigäuglein das sah, gieng es voll Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine bitteren Thränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach 'Zweiäuglein, was weinst du?' 'Soll ich nicht weinen!' antwortete es, 'die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.' Die weise Frau sprach 'Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt

und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach ‘ei, Dreiäuglein, bist du eingeschlafen? du kannst gut hüten! komm, wir wollen heim gehen.’ Und als sie nach Haus kamen, aß Zweiäuglein wieder nicht, und Dreiäuglein sprach zur Mutter ‘ich weiß nun warum das hochmüthige Ding nicht ißt: wenn sie draußen zur Ziege spricht

‘Zicklein, meck,
Tischlein, deck,’

so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser als wirs hier haben: und wenn sie satt ist, so spricht sie

‘Zicklein, meck,
Tischlein, weg,’

und alles ist wieder verschwunden; ich habe alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne, das war zum Glück wach geblieben.’ Da rief die neidische Mutter ‘willst dus besser haben, als wir? die Lust soll dir vergehen!’ Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, daß sie todt hinfiel.

Als Zweigäuglein das sah, gieng es voll Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine bitteren Thränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach ‘Zweiäuglein, was weinst du?’ ‘Soll ich nicht weinen!’ antwortete es, ‘die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.’ Die weise Frau sprach ‘Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0264" n="252"/>
        <p> und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach &#x2018;ei, Dreiäuglein, bist du eingeschlafen? du kannst gut hüten! komm, wir wollen heim gehen.&#x2019; Und als sie nach Haus kamen, aß Zweiäuglein wieder nicht, und Dreiäuglein sprach zur Mutter &#x2018;ich weiß nun warum das hochmüthige Ding nicht ißt: wenn sie draußen zur Ziege spricht</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Zicklein, meck,</l><lb/>
          <l>Tischlein, deck,&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser als wirs hier haben: und wenn sie satt ist, so spricht sie</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x2018;Zicklein, meck,</l><lb/>
          <l>Tischlein, weg,&#x2019;</l><lb/>
        </lg>
        <p>und alles ist wieder verschwunden; ich habe alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne, das war zum Glück wach geblieben.&#x2019; Da rief die neidische Mutter &#x2018;willst dus besser haben, als wir? die Lust soll dir vergehen!&#x2019; Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, daß sie todt hinfiel.</p><lb/>
        <p>Als Zweigäuglein das sah, gieng es voll Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine bitteren Thränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach &#x2018;Zweiäuglein, was weinst du?&#x2019; &#x2018;Soll ich nicht weinen!&#x2019; antwortete es, &#x2018;die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.&#x2019; Die weise Frau sprach &#x2018;Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0264] und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach ‘ei, Dreiäuglein, bist du eingeschlafen? du kannst gut hüten! komm, wir wollen heim gehen.’ Und als sie nach Haus kamen, aß Zweiäuglein wieder nicht, und Dreiäuglein sprach zur Mutter ‘ich weiß nun warum das hochmüthige Ding nicht ißt: wenn sie draußen zur Ziege spricht ‘Zicklein, meck, Tischlein, deck,’ so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser als wirs hier haben: und wenn sie satt ist, so spricht sie ‘Zicklein, meck, Tischlein, weg,’ und alles ist wieder verschwunden; ich habe alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne, das war zum Glück wach geblieben.’ Da rief die neidische Mutter ‘willst dus besser haben, als wir? die Lust soll dir vergehen!’ Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, daß sie todt hinfiel. Als Zweigäuglein das sah, gieng es voll Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine bitteren Thränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach ‘Zweiäuglein, was weinst du?’ ‘Soll ich nicht weinen!’ antwortete es, ‘die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.’ Die weise Frau sprach ‘Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-03T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1850/264
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1850/264>, abgerufen am 21.11.2024.