Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.'Heut Abend,' sprach sie, 'bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen: und wenn ihr da beisammen sitzt, so hüte dich daß du nicht einschläfst: ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.' Der Königssohn dachte, 'der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offen behalten,' doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, was die Alte gesagt hatte und sprach 'wer weiß, was für eine List dahinter steckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.' Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Thüre, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er that nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt. Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. 'O Jammer und Unglück,' rief der Königssohn, 'nun bin ich verloren!' Die treuen Diener fiengen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach 'seid still, ich will horchen,' da horchte er einen Augenblick und dann sprach er 'sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier, und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.' 'Ja,' antwortete der Lange, 'aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.' Da huckte der Lange den mit verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie ‘Heut Abend,’ sprach sie, ‘bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen: und wenn ihr da beisammen sitzt, so hüte dich daß du nicht einschläfst: ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.’ Der Königssohn dachte, ‘der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offen behalten,’ doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, was die Alte gesagt hatte und sprach ‘wer weiß, was für eine List dahinter steckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.’ Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Thüre, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er that nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt. Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. ‘O Jammer und Unglück,’ rief der Königssohn, ‘nun bin ich verloren!’ Die treuen Diener fiengen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach ‘seid still, ich will horchen,’ da horchte er einen Augenblick und dann sprach er ‘sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier, und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.’ ‘Ja,’ antwortete der Lange, ‘aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.’ Da huckte der Lange den mit verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0245" n="233"/> ‘Heut Abend,’ sprach sie, ‘bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen: und wenn ihr da beisammen sitzt, so hüte dich daß du nicht einschläfst: ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.’ Der Königssohn dachte, ‘der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offen behalten,’ doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, was die Alte gesagt hatte und sprach ‘wer weiß, was für eine List dahinter steckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.’ Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Thüre, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er that nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt.</p><lb/> <p>Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. ‘O Jammer und Unglück,’ rief der Königssohn, ‘nun bin ich verloren!’ Die treuen Diener fiengen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach ‘seid still, ich will horchen,’ da horchte er einen Augenblick und dann sprach er ‘sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier, und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.’ ‘Ja,’ antwortete der Lange, ‘aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.’ Da huckte der Lange den mit verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie </p> </div> </body> </text> </TEI> [233/0245]
‘Heut Abend,’ sprach sie, ‘bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen: und wenn ihr da beisammen sitzt, so hüte dich daß du nicht einschläfst: ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.’ Der Königssohn dachte, ‘der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offen behalten,’ doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, was die Alte gesagt hatte und sprach ‘wer weiß, was für eine List dahinter steckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.’ Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Thüre, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er that nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt.
Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. ‘O Jammer und Unglück,’ rief der Königssohn, ‘nun bin ich verloren!’ Die treuen Diener fiengen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach ‘seid still, ich will horchen,’ da horchte er einen Augenblick und dann sprach er ‘sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier, und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.’ ‘Ja,’ antwortete der Lange, ‘aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.’ Da huckte der Lange den mit verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie
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