Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.dem Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen Haare über sie herabfielen, und sie so schön war, wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum daß er zu athmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub so weit vor, als er nur konnte, und schaute sie mit unverwandten Blicken an. Ob er sich zu weit überbog, oder was sonst Schuld war, plötzlich krachte der Ast, und in demselben Augenblick schlüpfte das Mädchen in die Haut, sprang wie ein Reh davon, und da der Mond sich zugleich bedeckte, so war sie seinen Blicken entzogen. Kaum war sie verschwunden, so stieg der Graf von dem Baum herab und eilte ihr mit behenden Schritten nach. Er war noch nicht lange gegangen, so sah er in der Dämmerung zwei Gestalten über die Wiese wandeln. Es war der König und die Königin, die hatten aus der Ferne das Licht in dem Häuschen der Alten erblickt und waren drauf zu gegangen. Der Graf erzählte ihnen was er für Wunderdinge bei dem Brunnen gesehen hätte, und sie zweifelten nicht daß das ihre verlorene Tochter gewesen wäre. Voll Freude giengen sie weiter und kamen bald bei dem Häuschen an: die Gänse saßen rings herum, hatten den Kopf in die Flügel gesteckt und schliefen, und keine regte sich nicht. Sie schauten zum Fenster hinein, da saß die Alte ganz still und spann, nickte mit dem Kopf und sah sich nicht um. Es war ganz sauber in der Stube, als wenn da die kleinen Nebelmännlein wohnten, die keinen Staub auf den Füßen tragen. Jhre Tochter aber sahen sie nicht. Sie schauten das alles eine Zeitlang an, endlich faßten sie ein Herz und klopften leise ans Fenster. Die Alte schien sie erwartet zu haben, sie stand auf und rief ganz freundlich 'nur herein, ich kenne euch schon.' Als sie in die Stube eingetreten waren, sprach die Alte 'den weiten Weg hättet ihr euch sparen können, wenn ihr euer Kind, das so gut und liebreich ist, nicht vor drei Jahren ungerechter Weise verstoßen hättet. Jhr hats nichts geschadet, sie hat dem Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen Haare über sie herabfielen, und sie so schön war, wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum daß er zu athmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub so weit vor, als er nur konnte, und schaute sie mit unverwandten Blicken an. Ob er sich zu weit überbog, oder was sonst Schuld war, plötzlich krachte der Ast, und in demselben Augenblick schlüpfte das Mädchen in die Haut, sprang wie ein Reh davon, und da der Mond sich zugleich bedeckte, so war sie seinen Blicken entzogen. Kaum war sie verschwunden, so stieg der Graf von dem Baum herab und eilte ihr mit behenden Schritten nach. Er war noch nicht lange gegangen, so sah er in der Dämmerung zwei Gestalten über die Wiese wandeln. Es war der König und die Königin, die hatten aus der Ferne das Licht in dem Häuschen der Alten erblickt und waren drauf zu gegangen. Der Graf erzählte ihnen was er für Wunderdinge bei dem Brunnen gesehen hätte, und sie zweifelten nicht daß das ihre verlorene Tochter gewesen wäre. Voll Freude giengen sie weiter und kamen bald bei dem Häuschen an: die Gänse saßen rings herum, hatten den Kopf in die Flügel gesteckt und schliefen, und keine regte sich nicht. Sie schauten zum Fenster hinein, da saß die Alte ganz still und spann, nickte mit dem Kopf und sah sich nicht um. Es war ganz sauber in der Stube, als wenn da die kleinen Nebelmännlein wohnten, die keinen Staub auf den Füßen tragen. Jhre Tochter aber sahen sie nicht. Sie schauten das alles eine Zeitlang an, endlich faßten sie ein Herz und klopften leise ans Fenster. Die Alte schien sie erwartet zu haben, sie stand auf und rief ganz freundlich ‘nur herein, ich kenne euch schon.’ Als sie in die Stube eingetreten waren, sprach die Alte ‘den weiten Weg hättet ihr euch sparen können, wenn ihr euer Kind, das so gut und liebreich ist, nicht vor drei Jahren ungerechter Weise verstoßen hättet. Jhr hats nichts geschadet, sie hat <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0383" n="371"/> dem Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen Haare über sie herabfielen, und sie so schön war, wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum daß er zu athmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub so weit vor, als er nur konnte, und schaute sie mit unverwandten Blicken an. 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dem Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen Haare über sie herabfielen, und sie so schön war, wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum daß er zu athmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub so weit vor, als er nur konnte, und schaute sie mit unverwandten Blicken an. Ob er sich zu weit überbog, oder was sonst Schuld war, plötzlich krachte der Ast, und in demselben Augenblick schlüpfte das Mädchen in die Haut, sprang wie ein Reh davon, und da der Mond sich zugleich bedeckte, so war sie seinen Blicken entzogen.
Kaum war sie verschwunden, so stieg der Graf von dem Baum herab und eilte ihr mit behenden Schritten nach. Er war noch nicht lange gegangen, so sah er in der Dämmerung zwei Gestalten über die Wiese wandeln. Es war der König und die Königin, die hatten aus der Ferne das Licht in dem Häuschen der Alten erblickt und waren drauf zu gegangen. Der Graf erzählte ihnen was er für Wunderdinge bei dem Brunnen gesehen hätte, und sie zweifelten nicht daß das ihre verlorene Tochter gewesen wäre. Voll Freude giengen sie weiter und kamen bald bei dem Häuschen an: die Gänse saßen rings herum, hatten den Kopf in die Flügel gesteckt und schliefen, und keine regte sich nicht. Sie schauten zum Fenster hinein, da saß die Alte ganz still und spann, nickte mit dem Kopf und sah sich nicht um. Es war ganz sauber in der Stube, als wenn da die kleinen Nebelmännlein wohnten, die keinen Staub auf den Füßen tragen. Jhre Tochter aber sahen sie nicht. Sie schauten das alles eine Zeitlang an, endlich faßten sie ein Herz und klopften leise ans Fenster. Die Alte schien sie erwartet zu haben, sie stand auf und rief ganz freundlich ‘nur herein, ich kenne euch schon.’ Als sie in die Stube eingetreten waren, sprach die Alte ‘den weiten Weg hättet ihr euch sparen können, wenn ihr euer Kind, das so gut und liebreich ist, nicht vor drei Jahren ungerechter Weise verstoßen hättet. Jhr hats nichts geschadet, sie hat
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