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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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Nachbar, ein armer Mann, der ein Häufchen Kinder hatte, die er nicht mehr sättigen konnte. 'Jch weiß,' dachte der Arme, 'mein Nachbar ist reich, aber er ist ebenso hart: ich glaube nicht daß er mir hilft, aber meine Kinder schreien nach Brot, da will ich es wagen.' Er sprach zu dem Reichen 'Jhr gebt nicht leicht etwas von dem eurigen weg, aber ich stehe da wie einer, dem das Wasser bis an den Kopf geht: meine Kinder hungern, leiht mir vier Malter Korn.' Der Reiche sah ihn lange an, da begann der erste Sonnenstrahl der Milde einen Tropfen von dem Eis der Habsucht abzuschmelzen. 'Vier Malter will ich dir nicht leihen,' antwortete er, 'sondern achte will ich dir schenken, aber eine Bedingung mußt du erfüllen.' 'Was soll ich thun?' sprach der Arme. 'Wenn ich todt bin, sollst du drei Nächte an meinem Grabe wachen.' Dem Bauer ward bei dem Antrag unheimlich zu Muth, doch in der Noth, in der er sich befand, hätte er alles bewilligt: er sagte also zu und trug das Korn heim.

Es war, als hätte der Reiche vorausgesehen was geschehen würde, nach drei Tagen fiel er plötzlich todt zur Erde; man wußte nicht recht wie es zugegangen war, aber niemand trauerte um ihn. Als er bestattet war, fiel dem Armen sein Versprechen ein: gerne wäre er davon entbunden gewesen, aber er dachte 'er hat sich gegen dich doch mildthätig erwiesen, du hast mit seinem Korn deine hungrigen Kinder gesättigt, und wäre das auch nicht, du hast einmal das Versprechen gegeben und mußt du es halten.' Bei einbrechender Nacht gieng er auf den Kirchhof und setzte sich auf den Grabhügel. Es war alles still, nur der Mond schien über die Grabhügel und manchmal flog eine Eule vorbei und ließ ihre kläglichen Töne hören. Als die Sonne aufgieng, begab sich der Arme ungefährdet heim, und ebenso gieng die zweite Nacht ruhig vorüber. Den Abend des dritten Tages empfand er eine besondere Angst, es war ihm als stände noch etwas bevor. Als er hinaus

Nachbar, ein armer Mann, der ein Häufchen Kinder hatte, die er nicht mehr sättigen konnte. ‘Jch weiß,’ dachte der Arme, ‘mein Nachbar ist reich, aber er ist ebenso hart: ich glaube nicht daß er mir hilft, aber meine Kinder schreien nach Brot, da will ich es wagen.’ Er sprach zu dem Reichen ‘Jhr gebt nicht leicht etwas von dem eurigen weg, aber ich stehe da wie einer, dem das Wasser bis an den Kopf geht: meine Kinder hungern, leiht mir vier Malter Korn.’ Der Reiche sah ihn lange an, da begann der erste Sonnenstrahl der Milde einen Tropfen von dem Eis der Habsucht abzuschmelzen. ‘Vier Malter will ich dir nicht leihen,’ antwortete er, ‘sondern achte will ich dir schenken, aber eine Bedingung mußt du erfüllen.’ ‘Was soll ich thun?’ sprach der Arme. ‘Wenn ich todt bin, sollst du drei Nächte an meinem Grabe wachen.’ Dem Bauer ward bei dem Antrag unheimlich zu Muth, doch in der Noth, in der er sich befand, hätte er alles bewilligt: er sagte also zu und trug das Korn heim.

Es war, als hätte der Reiche vorausgesehen was geschehen würde, nach drei Tagen fiel er plötzlich todt zur Erde; man wußte nicht recht wie es zugegangen war, aber niemand trauerte um ihn. Als er bestattet war, fiel dem Armen sein Versprechen ein: gerne wäre er davon entbunden gewesen, aber er dachte ‘er hat sich gegen dich doch mildthätig erwiesen, du hast mit seinem Korn deine hungrigen Kinder gesättigt, und wäre das auch nicht, du hast einmal das Versprechen gegeben und mußt du es halten.’ Bei einbrechender Nacht gieng er auf den Kirchhof und setzte sich auf den Grabhügel. Es war alles still, nur der Mond schien über die Grabhügel und manchmal flog eine Eule vorbei und ließ ihre kläglichen Töne hören. Als die Sonne aufgieng, begab sich der Arme ungefährdet heim, und ebenso gieng die zweite Nacht ruhig vorüber. Den Abend des dritten Tages empfand er eine besondere Angst, es war ihm als stände noch etwas bevor. Als er hinaus

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[440/0452] Nachbar, ein armer Mann, der ein Häufchen Kinder hatte, die er nicht mehr sättigen konnte. ‘Jch weiß,’ dachte der Arme, ‘mein Nachbar ist reich, aber er ist ebenso hart: ich glaube nicht daß er mir hilft, aber meine Kinder schreien nach Brot, da will ich es wagen.’ Er sprach zu dem Reichen ‘Jhr gebt nicht leicht etwas von dem eurigen weg, aber ich stehe da wie einer, dem das Wasser bis an den Kopf geht: meine Kinder hungern, leiht mir vier Malter Korn.’ Der Reiche sah ihn lange an, da begann der erste Sonnenstrahl der Milde einen Tropfen von dem Eis der Habsucht abzuschmelzen. ‘Vier Malter will ich dir nicht leihen,’ antwortete er, ‘sondern achte will ich dir schenken, aber eine Bedingung mußt du erfüllen.’ ‘Was soll ich thun?’ sprach der Arme. ‘Wenn ich todt bin, sollst du drei Nächte an meinem Grabe wachen.’ Dem Bauer ward bei dem Antrag unheimlich zu Muth, doch in der Noth, in der er sich befand, hätte er alles bewilligt: er sagte also zu und trug das Korn heim. Es war, als hätte der Reiche vorausgesehen was geschehen würde, nach drei Tagen fiel er plötzlich todt zur Erde; man wußte nicht recht wie es zugegangen war, aber niemand trauerte um ihn. Als er bestattet war, fiel dem Armen sein Versprechen ein: gerne wäre er davon entbunden gewesen, aber er dachte ‘er hat sich gegen dich doch mildthätig erwiesen, du hast mit seinem Korn deine hungrigen Kinder gesättigt, und wäre das auch nicht, du hast einmal das Versprechen gegeben und mußt du es halten.’ Bei einbrechender Nacht gieng er auf den Kirchhof und setzte sich auf den Grabhügel. Es war alles still, nur der Mond schien über die Grabhügel und manchmal flog eine Eule vorbei und ließ ihre kläglichen Töne hören. Als die Sonne aufgieng, begab sich der Arme ungefährdet heim, und ebenso gieng die zweite Nacht ruhig vorüber. Den Abend des dritten Tages empfand er eine besondere Angst, es war ihm als stände noch etwas bevor. Als er hinaus

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/452>, abgerufen am 27.11.2024.