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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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darüber nachgedacht, er würde die älteren nicht so leicht un-
tergemengt haben, wenn er etwas anderes gewußt oder ge-
merkt hätte, von Parteilichkeit spricht ihn schon der offene Ta-
del jener Anachronismen los, so daß er gewiß nicht an dem
Buchstaben des Vorgefundenen geklebt 107). Keine andere
Meinung hegt der gelehrte Wagenseil, und an ihr stießen
auch viele nicht an, welche die Genannten ausgeschrieben 108).

Herr Docen, in der Ungewißheit, ob dieser mein Grund
die geringste Widerlegung verdiene, hilft sich dadurch gut her-
aus, daß er eine scheinbare versucht. Diese Leute hätten nichts
von dem blühenden Minnesang gewußt. Davon wären also
alle auszunehmen, die nach der Erscheinung von Goldasts viel-
gelesenen paraenet. gelebt; und sollten die Minnelieder übri-

107) An Irrthümern fehlt es ihm nicht, wie er z. B. den Boden-
laube, Morungen, Nyfen u. s. w. für Namen von Geschichten
hält. (Adelssp. 172b.) Sein Sohn Wolfhart hat das väter-
liche Werk einer eigenen neuen Arbeit zum Grund gelegt, die
manches Gute weggelassen haben mag, aber auch an Goldasts
herausgegebenen König Tyrol und andern handschriftlichen Mit-
theilungen sich neuen Stoff fand. Merkwürdig ist, daß er ver-
muthlich unsere maneß. Samml. ein Stamm- und Gesellen-
buch Kaiser Heinrichs nennt, worin dieser seine Hofleute sich
mit Meisterliedern einschreiben lassen. Nicht wegen dieser offen-
bar zu kühnen Conjectur, sondern weil ihm gar nicht einfällt,
die Minnelieder, davon er genug aus Schobingers oder Gold-
asts Abschriften vor Augen gehabt, für etwas anders als M. G.
zu betrachten. Und so führt er aus denselben eine Menge ein-
zelner Stellen im Verfolg seiner Abhandlung an und zählt die
Minnedichter unter den andern Meistern auf.
108) Fast alle Schriftsteller aus dem 17ten und Anfang des 18ten
Jahrhunderts über die Meistersänger können mittel- und un-
mittelbar auf Goldast und Spangenber[g] zurückgeführt werden,
namentlich Gryphius, Hanmann, Haisdörfer, Kindermann,
Morhof, Omeis etc. Deßwegen hätte Docen in seinem Verz.
der bei Philander v. Sittewald vorkommenden Minnelieder gar
nicht zu erwähnen gebraucht.

daruͤber nachgedacht, er wuͤrde die aͤlteren nicht ſo leicht un-
tergemengt haben, wenn er etwas anderes gewußt oder ge-
merkt haͤtte, von Parteilichkeit ſpricht ihn ſchon der offene Ta-
del jener Anachroniſmen los, ſo daß er gewiß nicht an dem
Buchſtaben des Vorgefundenen geklebt 107). Keine andere
Meinung hegt der gelehrte Wagenſeil, und an ihr ſtießen
auch viele nicht an, welche die Genannten ausgeſchrieben 108).

Herr Docen, in der Ungewißheit, ob dieſer mein Grund
die geringſte Widerlegung verdiene, hilft ſich dadurch gut her-
aus, daß er eine ſcheinbare verſucht. Dieſe Leute haͤtten nichts
von dem bluͤhenden Minneſang gewußt. Davon waͤren alſo
alle auszunehmen, die nach der Erſcheinung von Goldaſts viel-
geleſenen paraenet. gelebt; und ſollten die Minnelieder uͤbri-

107) An Irrthuͤmern fehlt es ihm nicht, wie er z. B. den Boden-
laube, Morungen, Nyfen u. ſ. w. fuͤr Namen von Geſchichten
haͤlt. (Adelsſp. 172b.) Sein Sohn Wolfhart hat das vaͤter-
liche Werk einer eigenen neuen Arbeit zum Grund gelegt, die
manches Gute weggelaſſen haben mag, aber auch an Goldaſts
herausgegebenen Koͤnig Tyrol und andern handſchriftlichen Mit-
theilungen ſich neuen Stoff fand. Merkwuͤrdig iſt, daß er ver-
muthlich unſere maneß. Samml. ein Stamm- und Geſellen-
buch Kaiſer Heinrichs nennt, worin dieſer ſeine Hofleute ſich
mit Meiſterliedern einſchreiben laſſen. Nicht wegen dieſer offen-
bar zu kuͤhnen Conjectur, ſondern weil ihm gar nicht einfaͤllt,
die Minnelieder, davon er genug aus Schobingers oder Gold-
aſts Abſchriften vor Augen gehabt, fuͤr etwas anders als M. G.
zu betrachten. Und ſo fuͤhrt er aus denſelben eine Menge ein-
zelner Stellen im Verfolg ſeiner Abhandlung an und zaͤhlt die
Minnedichter unter den andern Meiſtern auf.
108) Faſt alle Schriftſteller aus dem 17ten und Anfang des 18ten
Jahrhunderts uͤber die Meiſterſaͤnger koͤnnen mittel- und un-
mittelbar auf Goldaſt und Spangenber[g] zuruͤckgefuͤhrt werden,
namentlich Gryphius, Hanmann, Haisdoͤrfer, Kindermann,
Morhof, Omeis ꝛc. Deßwegen haͤtte Docen in ſeinem Verz.
der bei Philander v. Sittewald vorkommenden Minnelieder gar
nicht zu erwaͤhnen gebraucht.
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[122/0132] daruͤber nachgedacht, er wuͤrde die aͤlteren nicht ſo leicht un- tergemengt haben, wenn er etwas anderes gewußt oder ge- merkt haͤtte, von Parteilichkeit ſpricht ihn ſchon der offene Ta- del jener Anachroniſmen los, ſo daß er gewiß nicht an dem Buchſtaben des Vorgefundenen geklebt 107). Keine andere Meinung hegt der gelehrte Wagenſeil, und an ihr ſtießen auch viele nicht an, welche die Genannten ausgeſchrieben 108). Herr Docen, in der Ungewißheit, ob dieſer mein Grund die geringſte Widerlegung verdiene, hilft ſich dadurch gut her- aus, daß er eine ſcheinbare verſucht. Dieſe Leute haͤtten nichts von dem bluͤhenden Minneſang gewußt. Davon waͤren alſo alle auszunehmen, die nach der Erſcheinung von Goldaſts viel- geleſenen paraenet. gelebt; und ſollten die Minnelieder uͤbri- 107) An Irrthuͤmern fehlt es ihm nicht, wie er z. B. den Boden- laube, Morungen, Nyfen u. ſ. w. fuͤr Namen von Geſchichten haͤlt. (Adelsſp. 172b.) Sein Sohn Wolfhart hat das vaͤter- liche Werk einer eigenen neuen Arbeit zum Grund gelegt, die manches Gute weggelaſſen haben mag, aber auch an Goldaſts herausgegebenen Koͤnig Tyrol und andern handſchriftlichen Mit- theilungen ſich neuen Stoff fand. Merkwuͤrdig iſt, daß er ver- muthlich unſere maneß. Samml. ein Stamm- und Geſellen- buch Kaiſer Heinrichs nennt, worin dieſer ſeine Hofleute ſich mit Meiſterliedern einſchreiben laſſen. Nicht wegen dieſer offen- bar zu kuͤhnen Conjectur, ſondern weil ihm gar nicht einfaͤllt, die Minnelieder, davon er genug aus Schobingers oder Gold- aſts Abſchriften vor Augen gehabt, fuͤr etwas anders als M. G. zu betrachten. Und ſo fuͤhrt er aus denſelben eine Menge ein- zelner Stellen im Verfolg ſeiner Abhandlung an und zaͤhlt die Minnedichter unter den andern Meiſtern auf. 108) Faſt alle Schriftſteller aus dem 17ten und Anfang des 18ten Jahrhunderts uͤber die Meiſterſaͤnger koͤnnen mittel- und un- mittelbar auf Goldaſt und Spangenberg zuruͤckgefuͤhrt werden, namentlich Gryphius, Hanmann, Haisdoͤrfer, Kindermann, Morhof, Omeis ꝛc. Deßwegen haͤtte Docen in ſeinem Verz. der bei Philander v. Sittewald vorkommenden Minnelieder gar nicht zu erwaͤhnen gebraucht.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/132>, abgerufen am 21.11.2024.