Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Dergleichen können sich früher finden und später nicht, oder
umgekehrt, unstreitig müssen wir aber auszumachen suchen,
welche zu beiden Zeiten gegolten haben, damit wir auch in
Besonderem das Allgemeine bes[t]ätigt sehen. Andererseits liegt
die offenbarste Unhaltbarkeit seiner Meinung darin, daß er
zwar den Begriff seines Meistergesangs in folche Zufälligkei-
ten setzt, statt ihre Wandelbarkeit zu erkennen, dennoch aber
nicht bestimmt damit heraustritt.

Wie man sieht, so scheint sich beinahe aller Zweifel vom
Verhältniß der alten Dichter zu den späteren Meistersängern
weg zu entfernen. Docen gibt die Existenz früherer Meister-
sänger zu und verredet nicht allen Zusammenhang mit denen
der folgenden Zeit. Ich hätte also nur seinen zwischen den
alten Meistern und andern Minnedichtern gelassenen Unterschied
zu widerlegen, und mein ganzer Satz wäre von ihm unange-
fochten. Die allmälige Veränderung, worin dann eine offen-
bare Verschlechterung, bliebe bloß noch historisch aufzuhellen.

Freilich, so hätte meiner Meinung nur eine einzige con-
sequente entgegengestellt werden können, wenn sie auszuführen
gewesen wäre, die nämlich, welche eigenthümliche Kennzeichen
späteres Meistergesanges zum allgemeinen, nothwendigen
Character annehmend, alle Dichter, die nun jene nicht an sich
trügen, für Nichtmeistersänger erklärte 9). Hierin ist neben
der scheinbaren Consequenz aber eine große Uncritik zu finden;
wenn eine Untersuchung kein allmäliges Bilden (oder Verbil-
den) zuläßt und gleich ein feststehendes will, so mangelt ihr
ein Hauptstück historischer Forschung, Empfänglichkeit für alles

9) Büsching hat in der That so etwas unternommen, indem
er den Ursprung des Meistergesangs von der Zeit der wirklichen
Tabulaturen an abhängig macht. (N. lit. A. 1808. Col. 406.)
Zum Unglück müßte dann etwa die Auffindung einer früheren
Tabulatur das ganze System umwerfen! Davon abgesehen,
daß, so viel ich weiß, alle Tabulaturen local gewesen sind.
B 2

Dergleichen koͤnnen ſich fruͤher finden und ſpaͤter nicht, oder
umgekehrt, unſtreitig muͤſſen wir aber auszumachen ſuchen,
welche zu beiden Zeiten gegolten haben, damit wir auch in
Beſonderem das Allgemeine beſ[t]aͤtigt ſehen. Andererſeits liegt
die offenbarſte Unhaltbarkeit ſeiner Meinung darin, daß er
zwar den Begriff ſeines Meiſtergeſangs in folche Zufaͤlligkei-
ten ſetzt, ſtatt ihre Wandelbarkeit zu erkennen, dennoch aber
nicht beſtimmt damit heraustritt.

Wie man ſieht, ſo ſcheint ſich beinahe aller Zweifel vom
Verhaͤltniß der alten Dichter zu den ſpaͤteren Meiſterſaͤngern
weg zu entfernen. Docen gibt die Exiſtenz fruͤherer Meiſter-
ſaͤnger zu und verredet nicht allen Zuſammenhang mit denen
der folgenden Zeit. Ich haͤtte alſo nur ſeinen zwiſchen den
alten Meiſtern und andern Minnedichtern gelaſſenen Unterſchied
zu widerlegen, und mein ganzer Satz waͤre von ihm unange-
fochten. Die allmaͤlige Veraͤnderung, worin dann eine offen-
bare Verſchlechterung, bliebe bloß noch hiſtoriſch aufzuhellen.

Freilich, ſo haͤtte meiner Meinung nur eine einzige con-
ſequente entgegengeſtellt werden koͤnnen, wenn ſie auszufuͤhren
geweſen waͤre, die naͤmlich, welche eigenthuͤmliche Kennzeichen
ſpaͤteres Meiſtergeſanges zum allgemeinen, nothwendigen
Character annehmend, alle Dichter, die nun jene nicht an ſich
truͤgen, fuͤr Nichtmeiſterſaͤnger erklaͤrte 9). Hierin iſt neben
der ſcheinbaren Conſequenz aber eine große Uncritik zu finden;
wenn eine Unterſuchung kein allmaͤliges Bilden (oder Verbil-
den) zulaͤßt und gleich ein feſtſtehendes will, ſo mangelt ihr
ein Hauptſtuͤck hiſtoriſcher Forſchung, Empfaͤnglichkeit fuͤr alles

9) Buͤſching hat in der That ſo etwas unternommen, indem
er den Urſprung des Meiſtergeſangs von der Zeit der wirklichen
Tabulaturen an abhaͤngig macht. (N. lit. A. 1808. Col. 406.)
Zum Ungluͤck muͤßte dann etwa die Auffindung einer fruͤheren
Tabulatur das ganze Syſtem umwerfen! Davon abgeſehen,
daß, ſo viel ich weiß, alle Tabulaturen local geweſen ſind.
B 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0029" n="19"/>
          <p>Dergleichen ko&#x0364;nnen &#x017F;ich fru&#x0364;her finden und &#x017F;pa&#x0364;ter nicht, oder<lb/>
umgekehrt, un&#x017F;treitig mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir aber auszumachen &#x017F;uchen,<lb/>
welche zu beiden Zeiten gegolten haben, damit wir auch in<lb/>
Be&#x017F;onderem das Allgemeine be&#x017F;<supplied>t</supplied>a&#x0364;tigt &#x017F;ehen. Anderer&#x017F;eits liegt<lb/>
die offenbar&#x017F;te Unhaltbarkeit &#x017F;einer Meinung darin, daß er<lb/>
zwar den Begriff &#x017F;eines Mei&#x017F;terge&#x017F;angs in folche Zufa&#x0364;lligkei-<lb/>
ten &#x017F;etzt, &#x017F;tatt ihre Wandelbarkeit zu erkennen, dennoch aber<lb/>
nicht be&#x017F;timmt damit heraustritt.</p><lb/>
          <p>Wie man &#x017F;ieht, &#x017F;o &#x017F;cheint &#x017F;ich beinahe aller Zweifel vom<lb/>
Verha&#x0364;ltniß der alten Dichter zu den &#x017F;pa&#x0364;teren Mei&#x017F;ter&#x017F;a&#x0364;ngern<lb/>
weg zu entfernen. <hi rendition="#g">Docen</hi> gibt die Exi&#x017F;tenz fru&#x0364;herer Mei&#x017F;ter-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;nger zu und verredet nicht allen Zu&#x017F;ammenhang mit denen<lb/>
der folgenden Zeit. Ich ha&#x0364;tte al&#x017F;o nur &#x017F;einen zwi&#x017F;chen den<lb/>
alten Mei&#x017F;tern und andern Minnedichtern gela&#x017F;&#x017F;enen Unter&#x017F;chied<lb/>
zu widerlegen, und mein ganzer Satz wa&#x0364;re von ihm unange-<lb/>
fochten. Die allma&#x0364;lige Vera&#x0364;nderung, worin dann eine offen-<lb/>
bare Ver&#x017F;chlechterung, bliebe bloß noch hi&#x017F;tori&#x017F;ch aufzuhellen.</p><lb/>
          <p>Freilich, &#x017F;o ha&#x0364;tte meiner Meinung nur eine einzige con-<lb/>
&#x017F;equente entgegenge&#x017F;tellt werden ko&#x0364;nnen, wenn &#x017F;ie auszufu&#x0364;hren<lb/>
gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, die na&#x0364;mlich, welche eigenthu&#x0364;mliche Kennzeichen<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;teres Mei&#x017F;terge&#x017F;anges zum allgemeinen, <hi rendition="#g">nothwendigen</hi><lb/>
Character annehmend, alle Dichter, die nun jene nicht an &#x017F;ich<lb/>
tru&#x0364;gen, fu&#x0364;r Nichtmei&#x017F;ter&#x017F;a&#x0364;nger erkla&#x0364;rte <note place="foot" n="9)"><hi rendition="#g">Bu&#x0364;&#x017F;ching</hi> hat in der That &#x017F;o etwas unternommen, indem<lb/>
er den Ur&#x017F;prung des Mei&#x017F;terge&#x017F;angs von der Zeit der wirklichen<lb/>
Tabulaturen an abha&#x0364;ngig macht. (N. lit. A. 1808. Col. 406.)<lb/>
Zum Unglu&#x0364;ck mu&#x0364;ßte dann etwa die Auffindung einer fru&#x0364;heren<lb/>
Tabulatur das ganze Sy&#x017F;tem umwerfen! Davon abge&#x017F;ehen,<lb/>
daß, &#x017F;o viel ich weiß, alle Tabulaturen local gewe&#x017F;en &#x017F;ind.</note>. Hierin i&#x017F;t neben<lb/>
der &#x017F;cheinbaren Con&#x017F;equenz aber eine große Uncritik zu finden;<lb/>
wenn eine Unter&#x017F;uchung kein allma&#x0364;liges Bilden (oder Verbil-<lb/>
den) zula&#x0364;ßt und gleich ein fe&#x017F;t&#x017F;tehendes will, &#x017F;o mangelt ihr<lb/>
ein Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck hi&#x017F;tori&#x017F;cher For&#x017F;chung, Empfa&#x0364;nglichkeit fu&#x0364;r alles<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0029] Dergleichen koͤnnen ſich fruͤher finden und ſpaͤter nicht, oder umgekehrt, unſtreitig muͤſſen wir aber auszumachen ſuchen, welche zu beiden Zeiten gegolten haben, damit wir auch in Beſonderem das Allgemeine beſtaͤtigt ſehen. Andererſeits liegt die offenbarſte Unhaltbarkeit ſeiner Meinung darin, daß er zwar den Begriff ſeines Meiſtergeſangs in folche Zufaͤlligkei- ten ſetzt, ſtatt ihre Wandelbarkeit zu erkennen, dennoch aber nicht beſtimmt damit heraustritt. Wie man ſieht, ſo ſcheint ſich beinahe aller Zweifel vom Verhaͤltniß der alten Dichter zu den ſpaͤteren Meiſterſaͤngern weg zu entfernen. Docen gibt die Exiſtenz fruͤherer Meiſter- ſaͤnger zu und verredet nicht allen Zuſammenhang mit denen der folgenden Zeit. Ich haͤtte alſo nur ſeinen zwiſchen den alten Meiſtern und andern Minnedichtern gelaſſenen Unterſchied zu widerlegen, und mein ganzer Satz waͤre von ihm unange- fochten. Die allmaͤlige Veraͤnderung, worin dann eine offen- bare Verſchlechterung, bliebe bloß noch hiſtoriſch aufzuhellen. Freilich, ſo haͤtte meiner Meinung nur eine einzige con- ſequente entgegengeſtellt werden koͤnnen, wenn ſie auszufuͤhren geweſen waͤre, die naͤmlich, welche eigenthuͤmliche Kennzeichen ſpaͤteres Meiſtergeſanges zum allgemeinen, nothwendigen Character annehmend, alle Dichter, die nun jene nicht an ſich truͤgen, fuͤr Nichtmeiſterſaͤnger erklaͤrte 9). Hierin iſt neben der ſcheinbaren Conſequenz aber eine große Uncritik zu finden; wenn eine Unterſuchung kein allmaͤliges Bilden (oder Verbil- den) zulaͤßt und gleich ein feſtſtehendes will, ſo mangelt ihr ein Hauptſtuͤck hiſtoriſcher Forſchung, Empfaͤnglichkeit fuͤr alles 9) Buͤſching hat in der That ſo etwas unternommen, indem er den Urſprung des Meiſtergeſangs von der Zeit der wirklichen Tabulaturen an abhaͤngig macht. (N. lit. A. 1808. Col. 406.) Zum Ungluͤck muͤßte dann etwa die Auffindung einer fruͤheren Tabulatur das ganze Syſtem umwerfen! Davon abgeſehen, daß, ſo viel ich weiß, alle Tabulaturen local geweſen ſind. B 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/29
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/29>, abgerufen am 21.11.2024.