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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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sich in hunderterlei Verschiedenheit entwickeln konnte, der Frische
dieser Poesie selbst etwas zu benehmen?

Das alles würde sich noch klärer ergeben, hätte die Un-
gunst der Zeit nicht die meisten Minnelieder der alten großen
Meister verloren. Wie wenige haben sich des reichen Wolf-
rams
erhalten und von Gottfried nur ein Paar kostbare,
ja von Ofterdingen gar nichts, über dessen Person über-
haupt ein sonderbares Dunke! waltet! Besäßen wir nur von
Veldeck so viel als von Walter! Andererseits fällt es
auf, daß mancher sangliebende Fürst, wie Landgr. Herrmann,
keine eigene Lieder hinterlassen hat.

Docen sucht sich so zu helfen, daß nach ihm die Minne-
sänger zwar einigen Unterricht erhielten, -- das wäre nicht
einmal nöthig anzunehmen -- doch aber deßhalb in keiner
engsten Verbindung gestanden hätten.

Dieß letzte zu behaupten, wäre auch gewiß sehr unhisto-
risch 10), und um nur eines zu sagen, der Würdigkeit der
höheren Stände unangemessen; weniger die äußerliche Zuthat,
sondern die Bedingung des inneren Auftreibens blühender Poesie
soll ja hier erklärt werden. In so fern ist es uns gleichviel,
ob sie selbst damals für Meister geachtet worden 11), denn es

10) Daß ich wenigstens das nie gewollt, sehe man aus meinem
ersten Aufsatz, wo ich sagte:"vielleicht alle Minnesinger
sind eigentliche Meistersinger," einen solchen Einwand ahnend.
Die Sache ist aber deutlicher, wenn das untersirichene Wort
wegbleibt.
11) Zum wenigsten ist es ganz erklärlich, wenn sie nicht eben Mei-
ster genannt werden, welches Docen S. 446. gegen mich bei-
bringt. In dem Glanz ihres Standes erblaßte schon wieder
der Ehrenname des Dichters. Im 17. und 18. Jahrhundert
war z. B. das Drechslen eine Lieblingsbeschäftigung mancher
deutschen Fürsten, keiner wird aber Drechslermeister geheißen
haben, obgleich sie wirkliche Drechslerarbeit lieferten. Die auf
den spätern Meisterschulen von den bloßen Singern oder Schul-

ſich in hunderterlei Verſchiedenheit entwickeln konnte, der Friſche
dieſer Poeſie ſelbſt etwas zu benehmen?

Das alles wuͤrde ſich noch klaͤrer ergeben, haͤtte die Un-
gunſt der Zeit nicht die meiſten Minnelieder der alten großen
Meiſter verloren. Wie wenige haben ſich des reichen Wolf-
rams
erhalten und von Gottfried nur ein Paar koſtbare,
ja von Ofterdingen gar nichts, uͤber deſſen Perſon uͤber-
haupt ein ſonderbares Dunke! waltet! Beſaͤßen wir nur von
Veldeck ſo viel als von Walter! Andererſeits faͤllt es
auf, daß mancher ſangliebende Fuͤrſt, wie Landgr. Herrmann,
keine eigene Lieder hinterlaſſen hat.

Docen ſucht ſich ſo zu helfen, daß nach ihm die Minne-
ſaͤnger zwar einigen Unterricht erhielten, — das waͤre nicht
einmal noͤthig anzunehmen — doch aber deßhalb in keiner
engſten Verbindung geſtanden haͤtten.

Dieß letzte zu behaupten, waͤre auch gewiß ſehr unhiſto-
riſch 10), und um nur eines zu ſagen, der Wuͤrdigkeit der
hoͤheren Staͤnde unangemeſſen; weniger die aͤußerliche Zuthat,
ſondern die Bedingung des inneren Auftreibens bluͤhender Poeſie
ſoll ja hier erklaͤrt werden. In ſo fern iſt es uns gleichviel,
ob ſie ſelbſt damals fuͤr Meiſter geachtet worden 11), denn es

10) Daß ich wenigſtens das nie gewollt, ſehe man aus meinem
erſten Aufſatz, wo ich ſagte:„vielleicht alle Minneſinger
ſind eigentliche Meiſterſinger,“ einen ſolchen Einwand ahnend.
Die Sache iſt aber deutlicher, wenn das unterſirichene Wort
wegbleibt.
11) Zum wenigſten iſt es ganz erklaͤrlich, wenn ſie nicht eben Mei-
ſter genannt werden, welches Docen S. 446. gegen mich bei-
bringt. In dem Glanz ihres Standes erblaßte ſchon wieder
der Ehrenname des Dichters. Im 17. und 18. Jahrhundert
war z. B. das Drechslen eine Lieblingsbeſchaͤftigung mancher
deutſchen Fuͤrſten, keiner wird aber Drechslermeiſter geheißen
haben, obgleich ſie wirkliche Drechslerarbeit lieferten. Die auf
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[21/0031] ſich in hunderterlei Verſchiedenheit entwickeln konnte, der Friſche dieſer Poeſie ſelbſt etwas zu benehmen? Das alles wuͤrde ſich noch klaͤrer ergeben, haͤtte die Un- gunſt der Zeit nicht die meiſten Minnelieder der alten großen Meiſter verloren. Wie wenige haben ſich des reichen Wolf- rams erhalten und von Gottfried nur ein Paar koſtbare, ja von Ofterdingen gar nichts, uͤber deſſen Perſon uͤber- haupt ein ſonderbares Dunke! waltet! Beſaͤßen wir nur von Veldeck ſo viel als von Walter! Andererſeits faͤllt es auf, daß mancher ſangliebende Fuͤrſt, wie Landgr. Herrmann, keine eigene Lieder hinterlaſſen hat. Docen ſucht ſich ſo zu helfen, daß nach ihm die Minne- ſaͤnger zwar einigen Unterricht erhielten, — das waͤre nicht einmal noͤthig anzunehmen — doch aber deßhalb in keiner engſten Verbindung geſtanden haͤtten. Dieß letzte zu behaupten, waͤre auch gewiß ſehr unhiſto- riſch 10), und um nur eines zu ſagen, der Wuͤrdigkeit der hoͤheren Staͤnde unangemeſſen; weniger die aͤußerliche Zuthat, ſondern die Bedingung des inneren Auftreibens bluͤhender Poeſie ſoll ja hier erklaͤrt werden. In ſo fern iſt es uns gleichviel, ob ſie ſelbſt damals fuͤr Meiſter geachtet worden 11), denn es 10) Daß ich wenigſtens das nie gewollt, ſehe man aus meinem erſten Aufſatz, wo ich ſagte:„vielleicht alle Minneſinger ſind eigentliche Meiſterſinger,“ einen ſolchen Einwand ahnend. Die Sache iſt aber deutlicher, wenn das unterſirichene Wort wegbleibt. 11) Zum wenigſten iſt es ganz erklaͤrlich, wenn ſie nicht eben Mei- ſter genannt werden, welches Docen S. 446. gegen mich bei- bringt. In dem Glanz ihres Standes erblaßte ſchon wieder der Ehrenname des Dichters. Im 17. und 18. Jahrhundert war z. B. das Drechslen eine Lieblingsbeſchaͤftigung mancher deutſchen Fuͤrſten, keiner wird aber Drechslermeiſter geheißen haben, obgleich ſie wirkliche Drechslerarbeit lieferten. Die auf den ſpaͤtern Meiſterſchulen von den bloßen Singern oder Schul-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/31>, abgerufen am 21.11.2024.