Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Frau Base, lieb wie den Genius meiner Jugend, und nun geben Sie mir einen Kuß und dann Ihren Segen. Bewegt schloß er sie in seine Arme, küßte sie und schritt dann rasch davon, alle weiteren Fragen gleichsam mit der Hand abwehrend. Lange stand die Frau Conrectorin, in sprachloses Staunen versunken. Ja, mein Gott, ist denn der Vetter ein Narr geworden, ein capitaler Narr? -- murmelte sie vor sich hin. Ich kenne ihn ja gar nicht mehr. Aber so viel ist richtig, Frau Julia hat ihm den Laufpaß gegeben. Es ist aus, es ist Alles aus; er will ja abreisen, wenn ich recht verstanden habe. O ich thörichte, unbesonnene Frau, was habe ich da angestellt! das hätte ich doch voraussehen können, voraussehen müssen. Kopfschüttelnd und brummend über die Räthselhaftigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Männer insbesondere, trippelte sie den ganzen Tag in ihrem Anwesen herum und verwünschte von Herzensgrund die Koketterie und den Eigensinn der unbegreiflichen, schönen Frau Julia. Frau Base, lieb wie den Genius meiner Jugend, und nun geben Sie mir einen Kuß und dann Ihren Segen. Bewegt schloß er sie in seine Arme, küßte sie und schritt dann rasch davon, alle weiteren Fragen gleichsam mit der Hand abwehrend. Lange stand die Frau Conrectorin, in sprachloses Staunen versunken. Ja, mein Gott, ist denn der Vetter ein Narr geworden, ein capitaler Narr? — murmelte sie vor sich hin. Ich kenne ihn ja gar nicht mehr. Aber so viel ist richtig, Frau Julia hat ihm den Laufpaß gegeben. Es ist aus, es ist Alles aus; er will ja abreisen, wenn ich recht verstanden habe. O ich thörichte, unbesonnene Frau, was habe ich da angestellt! das hätte ich doch voraussehen können, voraussehen müssen. Kopfschüttelnd und brummend über die Räthselhaftigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Männer insbesondere, trippelte sie den ganzen Tag in ihrem Anwesen herum und verwünschte von Herzensgrund die Koketterie und den Eigensinn der unbegreiflichen, schönen Frau Julia. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0102"/> Frau Base, lieb wie den Genius meiner Jugend, und nun geben Sie mir einen Kuß und dann Ihren Segen.</p><lb/> <p>Bewegt schloß er sie in seine Arme, küßte sie und schritt dann rasch davon, alle weiteren Fragen gleichsam mit der Hand abwehrend.</p><lb/> <p>Lange stand die Frau Conrectorin, in sprachloses Staunen versunken.</p><lb/> <p>Ja, mein Gott, ist denn der Vetter ein Narr geworden, ein capitaler Narr? — murmelte sie vor sich hin. Ich kenne ihn ja gar nicht mehr. Aber so viel ist richtig, Frau Julia hat ihm den Laufpaß gegeben. Es ist aus, es ist Alles aus; er will ja abreisen, wenn ich recht verstanden habe. O ich thörichte, unbesonnene Frau, was habe ich da angestellt! das hätte ich doch voraussehen können, voraussehen müssen.</p><lb/> <p>Kopfschüttelnd und brummend über die Räthselhaftigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Männer insbesondere, trippelte sie den ganzen Tag in ihrem Anwesen herum und verwünschte von Herzensgrund die Koketterie und den Eigensinn der unbegreiflichen, schönen Frau Julia.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0102]
Frau Base, lieb wie den Genius meiner Jugend, und nun geben Sie mir einen Kuß und dann Ihren Segen.
Bewegt schloß er sie in seine Arme, küßte sie und schritt dann rasch davon, alle weiteren Fragen gleichsam mit der Hand abwehrend.
Lange stand die Frau Conrectorin, in sprachloses Staunen versunken.
Ja, mein Gott, ist denn der Vetter ein Narr geworden, ein capitaler Narr? — murmelte sie vor sich hin. Ich kenne ihn ja gar nicht mehr. Aber so viel ist richtig, Frau Julia hat ihm den Laufpaß gegeben. Es ist aus, es ist Alles aus; er will ja abreisen, wenn ich recht verstanden habe. O ich thörichte, unbesonnene Frau, was habe ich da angestellt! das hätte ich doch voraussehen können, voraussehen müssen.
Kopfschüttelnd und brummend über die Räthselhaftigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Männer insbesondere, trippelte sie den ganzen Tag in ihrem Anwesen herum und verwünschte von Herzensgrund die Koketterie und den Eigensinn der unbegreiflichen, schönen Frau Julia.
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/102>, abgerufen am 16.07.2024. |