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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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verstehe Sie, ich blicke in die Tiefe eines Menschenschicksals. Sie sind eine Unglückliche, eine Dulderin, ein Opfer feindlicher Mächte. O, meine liebe, gnädige Frau -- und pathetisch streckte dieser Malvolio seine dürre Hand aus --, wohin wir auch blicken mögen im Leben, in der Kunst, in der Geschichte und Legende, was ist das Erhebendste, das unwiderstehlich Rührendste, das philosophisch, ethisch und psychisch stets ungelös'te heilige Mysterium? Es ist das duldende Weib! -- das ewig Weibliche in seiner Verklärung des Leides! -- Gleichviel, ob es uns als mater dolorosa, als Niobe, Antigone oder Sakuntala entgegentritt -- gleichviel, ob wir es in Hekuba und Ariadne, in Medea oder Magdalene, Andromache oder Gretchen verkörpert sehen -- überall ist das leidende Weib heilig gewesen und hat die edelsten Geister zu den edelsten Thatenwerken und Offenbarungen inspirirt!

Julia blickte den Schwärmer einen Augenblick von der Seite an. Sie empfand zugleich Lachlust über die maßlosen Uebertreibungen des Pedanten und Buchmenschen und zugleich eine Art Mitleid mit sich selbst, in eine so fatale Situation gebracht zu sein.

Das möchte doch wohl zu viel gesagt sein, flüsterte sie mit halber Stimme -- eigentlich nur um etwas zu sagen.

Zu viel -- was denken Sie, meine Gnädige! begann er von Neuem. O, Sie scheinen es nicht zu ahnen, mit welch geistigem Zauber der Schmerz verschönt.

verstehe Sie, ich blicke in die Tiefe eines Menschenschicksals. Sie sind eine Unglückliche, eine Dulderin, ein Opfer feindlicher Mächte. O, meine liebe, gnädige Frau — und pathetisch streckte dieser Malvolio seine dürre Hand aus —, wohin wir auch blicken mögen im Leben, in der Kunst, in der Geschichte und Legende, was ist das Erhebendste, das unwiderstehlich Rührendste, das philosophisch, ethisch und psychisch stets ungelös'te heilige Mysterium? Es ist das duldende Weib! — das ewig Weibliche in seiner Verklärung des Leides! — Gleichviel, ob es uns als mater dolorosa, als Niobe, Antigone oder Sakuntala entgegentritt — gleichviel, ob wir es in Hekuba und Ariadne, in Medea oder Magdalene, Andromache oder Gretchen verkörpert sehen — überall ist das leidende Weib heilig gewesen und hat die edelsten Geister zu den edelsten Thatenwerken und Offenbarungen inspirirt!

Julia blickte den Schwärmer einen Augenblick von der Seite an. Sie empfand zugleich Lachlust über die maßlosen Uebertreibungen des Pedanten und Buchmenschen und zugleich eine Art Mitleid mit sich selbst, in eine so fatale Situation gebracht zu sein.

Das möchte doch wohl zu viel gesagt sein, flüsterte sie mit halber Stimme — eigentlich nur um etwas zu sagen.

Zu viel — was denken Sie, meine Gnädige! begann er von Neuem. O, Sie scheinen es nicht zu ahnen, mit welch geistigem Zauber der Schmerz verschönt.

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[0089] verstehe Sie, ich blicke in die Tiefe eines Menschenschicksals. Sie sind eine Unglückliche, eine Dulderin, ein Opfer feindlicher Mächte. O, meine liebe, gnädige Frau — und pathetisch streckte dieser Malvolio seine dürre Hand aus —, wohin wir auch blicken mögen im Leben, in der Kunst, in der Geschichte und Legende, was ist das Erhebendste, das unwiderstehlich Rührendste, das philosophisch, ethisch und psychisch stets ungelös'te heilige Mysterium? Es ist das duldende Weib! — das ewig Weibliche in seiner Verklärung des Leides! — Gleichviel, ob es uns als mater dolorosa, als Niobe, Antigone oder Sakuntala entgegentritt — gleichviel, ob wir es in Hekuba und Ariadne, in Medea oder Magdalene, Andromache oder Gretchen verkörpert sehen — überall ist das leidende Weib heilig gewesen und hat die edelsten Geister zu den edelsten Thatenwerken und Offenbarungen inspirirt! Julia blickte den Schwärmer einen Augenblick von der Seite an. Sie empfand zugleich Lachlust über die maßlosen Uebertreibungen des Pedanten und Buchmenschen und zugleich eine Art Mitleid mit sich selbst, in eine so fatale Situation gebracht zu sein. Das möchte doch wohl zu viel gesagt sein, flüsterte sie mit halber Stimme — eigentlich nur um etwas zu sagen. Zu viel — was denken Sie, meine Gnädige! begann er von Neuem. O, Sie scheinen es nicht zu ahnen, mit welch geistigem Zauber der Schmerz verschönt.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/89>, abgerufen am 14.05.2024.