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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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bin unfrei, ich bin arm und mittellos -- würden Sie Muth und Entschlossenheit haben -- mich zu entführen?

Entführung! -- wie mit himmlischen Harmonieen und Posaunenklängen rauschte das Wort über Isidor hin. Seine entflammte Einbildungskraft sah Gondeln und Pferde, Fackeln und Masken, Gensdarmen und Piraten, Schwerter und Särge, Gift und Dolch -- Alles, was die Romantik und Criminalrechtspflege an die Geschichte der Entführungen knüpft, schwirrte vor seinen Sinnen. Er war berauscht und entzückt und doch zugleich wieder erschrocken, daß seine kühne Schwärmerei für die Heilige zu solchen höchst realen Entscheidungen drängen könne.

Sie zaudern, Herr Secretär -- Sie zweifeln und bedenken sich, sagte Julia. O, ich wußte es wohl, daß ich mit jenem Wort Ihr Mißtrauen erwecken, meiner eigenen Würde Alles vergeben würde. Sie verwerfen mich als eine Abenteurerin -- leben Sie wohl!

Nicht doch, nicht doch, gnädige Frau, rief Isidor und ergriff noch einmal ihre Hand. Heute, gleich, im Augenblick, wenn Sie befehlen!

Nicht heute, Herr Vetter, sagte sie beruhigt. Hören Sie wohl an, was ich sage. Es wird eine Entführung seltsamer Art sein, und Sie geloben mir im voraus Gehorsam bis zum Ziel! Wir werden zusammen reisen, wir werden in den Gasthöfen verschiedene Zimmer beziehen, Sie werden für alles Nöthige Sorge tragen und meine Wünsche stets als Befehle ansehen. Das Eine,

bin unfrei, ich bin arm und mittellos — würden Sie Muth und Entschlossenheit haben — mich zu entführen?

Entführung! — wie mit himmlischen Harmonieen und Posaunenklängen rauschte das Wort über Isidor hin. Seine entflammte Einbildungskraft sah Gondeln und Pferde, Fackeln und Masken, Gensdarmen und Piraten, Schwerter und Särge, Gift und Dolch — Alles, was die Romantik und Criminalrechtspflege an die Geschichte der Entführungen knüpft, schwirrte vor seinen Sinnen. Er war berauscht und entzückt und doch zugleich wieder erschrocken, daß seine kühne Schwärmerei für die Heilige zu solchen höchst realen Entscheidungen drängen könne.

Sie zaudern, Herr Secretär — Sie zweifeln und bedenken sich, sagte Julia. O, ich wußte es wohl, daß ich mit jenem Wort Ihr Mißtrauen erwecken, meiner eigenen Würde Alles vergeben würde. Sie verwerfen mich als eine Abenteurerin — leben Sie wohl!

Nicht doch, nicht doch, gnädige Frau, rief Isidor und ergriff noch einmal ihre Hand. Heute, gleich, im Augenblick, wenn Sie befehlen!

Nicht heute, Herr Vetter, sagte sie beruhigt. Hören Sie wohl an, was ich sage. Es wird eine Entführung seltsamer Art sein, und Sie geloben mir im voraus Gehorsam bis zum Ziel! Wir werden zusammen reisen, wir werden in den Gasthöfen verschiedene Zimmer beziehen, Sie werden für alles Nöthige Sorge tragen und meine Wünsche stets als Befehle ansehen. Das Eine,

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/98>, abgerufen am 27.11.2024.