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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

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Von der ursprünglichen Gleichheit
ein neuer Ankömling den untersten Platz einnehmen müs-
se, weil dieser niemanden aus dem Besitz der Ehre ver-
drängen könne, die er einmal genießt. Der lange Besitz,
sagen sie, legt den Fürsten einen Glanz bey, der sich
auf dem Haupte derjenigen nicht befindet, welche diese
Ehre zu geniessen erst angefangen haben, und es ist bil-
lig, daß die Würde des Ranges denen vorbehalten wird,
welche das Vorrecht desselben eher erlangt haben. Allein
die Zeit kan an und vor sich keine Ungleichheit des Vor-
zugs und der Rechte bewürken. Die vortreflichste Sache
kan von der geringsten in Ansehung der ältern Dauer
übertroffen werden. Zu Erlangung gleicher Rechte ist
der würkliche Besitz der Souverainetät hinlänglich: Wie
lange man solche besitze, darauf komt es nicht an. Dies
hängt blos vom Glück und der guten Staatsverfassung
ab.

Ueberdies wird dieser Grund durch den ungewissen
Ursprung der meisten Reiche entkräftet. Fast alle Na-
zionen suchen, wie Privatpersonen, in dem Alter der
Herkunft und des Adels eine besondere Ehre. Sie gehn
daher in ihrem Ursprunge so weit als möglich zurück.
Jedes Volk will das älteste seyn und ihre Geschichtbücher
sind über diesen Punct gewönlich mit den fabelhaftesten
Histörchen angefüllt. So fangen manche Historiker eini-
ger europäischen Reiche ihre Geschichte mehrere Jahrtau-
sende vor Christi Geburt, vom babilonischen Thurmbau
oder gar von der Sündfluth an. Wer soll nun diese
Nebel der Dunkelheit zerstreuen und den ersten Ursprung
der Reiche in ein solches Licht setzen, daß ihr Alter hin-
länglich erörtert und der davon abhangende Rang mit
Grunde bestimmt werden könte?

Indes haben Teutschland, Frankreich, Dänemark,
Schweden und andere Staaten diesen Grund öfters für
sich angeführt; und noch 1742 verlangte Grosbritannien,
des Alters halber, den Rang vor Preussen b].

Wenn

Von der urſpruͤnglichen Gleichheit
ein neuer Ankoͤmling den unterſten Platz einnehmen muͤſ-
ſe, weil dieſer niemanden aus dem Beſitz der Ehre ver-
draͤngen koͤnne, die er einmal genießt. Der lange Beſitz,
ſagen ſie, legt den Fuͤrſten einen Glanz bey, der ſich
auf dem Haupte derjenigen nicht befindet, welche dieſe
Ehre zu genieſſen erſt angefangen haben, und es iſt bil-
lig, daß die Wuͤrde des Ranges denen vorbehalten wird,
welche das Vorrecht deſſelben eher erlangt haben. Allein
die Zeit kan an und vor ſich keine Ungleichheit des Vor-
zugs und der Rechte bewuͤrken. Die vortreflichſte Sache
kan von der geringſten in Anſehung der aͤltern Dauer
uͤbertroffen werden. Zu Erlangung gleicher Rechte iſt
der wuͤrkliche Beſitz der Souverainetaͤt hinlaͤnglich: Wie
lange man ſolche beſitze, darauf komt es nicht an. Dies
haͤngt blos vom Gluͤck und der guten Staatsverfaſſung
ab.

Ueberdies wird dieſer Grund durch den ungewiſſen
Urſprung der meiſten Reiche entkraͤftet. Faſt alle Na-
zionen ſuchen, wie Privatperſonen, in dem Alter der
Herkunft und des Adels eine beſondere Ehre. Sie gehn
daher in ihrem Urſprunge ſo weit als moͤglich zuruͤck.
Jedes Volk will das aͤlteſte ſeyn und ihre Geſchichtbuͤcher
ſind uͤber dieſen Punct gewoͤnlich mit den fabelhafteſten
Hiſtoͤrchen angefuͤllt. So fangen manche Hiſtoriker eini-
ger europaͤiſchen Reiche ihre Geſchichte mehrere Jahrtau-
ſende vor Chriſti Geburt, vom babiloniſchen Thurmbau
oder gar von der Suͤndfluth an. Wer ſoll nun dieſe
Nebel der Dunkelheit zerſtreuen und den erſten Urſprung
der Reiche in ein ſolches Licht ſetzen, daß ihr Alter hin-
laͤnglich eroͤrtert und der davon abhangende Rang mit
Grunde beſtimmt werden koͤnte?

Indes haben Teutſchland, Frankreich, Daͤnemark,
Schweden und andere Staaten dieſen Grund oͤfters fuͤr
ſich angefuͤhrt; und noch 1742 verlangte Grosbritannien,
des Alters halber, den Rang vor Preuſſen b].

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[204/0230] Von der urſpruͤnglichen Gleichheit ein neuer Ankoͤmling den unterſten Platz einnehmen muͤſ- ſe, weil dieſer niemanden aus dem Beſitz der Ehre ver- draͤngen koͤnne, die er einmal genießt. Der lange Beſitz, ſagen ſie, legt den Fuͤrſten einen Glanz bey, der ſich auf dem Haupte derjenigen nicht befindet, welche dieſe Ehre zu genieſſen erſt angefangen haben, und es iſt bil- lig, daß die Wuͤrde des Ranges denen vorbehalten wird, welche das Vorrecht deſſelben eher erlangt haben. Allein die Zeit kan an und vor ſich keine Ungleichheit des Vor- zugs und der Rechte bewuͤrken. Die vortreflichſte Sache kan von der geringſten in Anſehung der aͤltern Dauer uͤbertroffen werden. Zu Erlangung gleicher Rechte iſt der wuͤrkliche Beſitz der Souverainetaͤt hinlaͤnglich: Wie lange man ſolche beſitze, darauf komt es nicht an. Dies haͤngt blos vom Gluͤck und der guten Staatsverfaſſung ab. Ueberdies wird dieſer Grund durch den ungewiſſen Urſprung der meiſten Reiche entkraͤftet. Faſt alle Na- zionen ſuchen, wie Privatperſonen, in dem Alter der Herkunft und des Adels eine beſondere Ehre. Sie gehn daher in ihrem Urſprunge ſo weit als moͤglich zuruͤck. Jedes Volk will das aͤlteſte ſeyn und ihre Geſchichtbuͤcher ſind uͤber dieſen Punct gewoͤnlich mit den fabelhafteſten Hiſtoͤrchen angefuͤllt. So fangen manche Hiſtoriker eini- ger europaͤiſchen Reiche ihre Geſchichte mehrere Jahrtau- ſende vor Chriſti Geburt, vom babiloniſchen Thurmbau oder gar von der Suͤndfluth an. Wer ſoll nun dieſe Nebel der Dunkelheit zerſtreuen und den erſten Urſprung der Reiche in ein ſolches Licht ſetzen, daß ihr Alter hin- laͤnglich eroͤrtert und der davon abhangende Rang mit Grunde beſtimmt werden koͤnte? Indes haben Teutſchland, Frankreich, Daͤnemark, Schweden und andere Staaten dieſen Grund oͤfters fuͤr ſich angefuͤhrt; und noch 1742 verlangte Grosbritannien, des Alters halber, den Rang vor Preuſſen b]. Wenn

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Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/230>, abgerufen am 21.11.2024.