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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

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und dem eingeführten Range der Nazionen.
§. 8.
d] Macht der Nazionen.

Der größere Umfang des Staats, die Mehrheit der
Reiche und die stärkere Anzal von Unterthanen, welche
ein Souverain beherscht, geben an und vor sich ebenfals
kein Recht des Vorrangs. Der Riese und der Zwerg
sind als Menschen einander volkommen gleich, und der
kleinste freie Staat hat eben so viel Rechte als der gröste;
denn diese fliessen nicht aus der Macht, wie Fürstenerius
lehrt, sondern aus der Unabhängigkeit, die, wenn sie
volkommen seyn soll, bey allen Nazionen gleich seyn
muß. Allein der große und mächtige Staat, sagen
Ickstadt a], Vattel b], Real c] und andere, kan in der
Völkergeselschaft eine weit ansehnlichere Rolle spielen
und den Zweck derselben, die gemeinschaftliche Sicher-
heit und Ruhe in einem weit stärkern Grade befördern,
als ein kleiner. Es ist daher vernünftig und billig, daß
iener auch mehrere äusserliche Vorzüge genieße, und
daß dieser ihm bey Gelegenheiten weiche, wo einer nach-
geben muß. Allein Billigkeit ist noch kein Recht. In-
des ist der Unterschied der größern und kleinern Reiche
freilich von ieher sehr auffallend gewesen, und die Macht
hat ohnstreitig die erste Gelegenheit gegeben, sich einen
Vorrang bey den übrigen Nazionen, besonders bey den
Mindermächtigen zu verschaffen d]. Aus Furcht vor der
Mächtigen Rache räumten sie ihnen die verlangten Vor-
rechte willig ein. Eine Verbindlichkeit dazu ist iedoch
nicht vorhanden. Eine Nazion, welche ihr Reich selbst
hinlänglich zu beschützen und zu vertheidigen im Stande
ist, folglich die überwiegende Macht einer Größern we-
der fürchten noch suchen darf, hat nicht Ursach, diesem
aus dem Grunde der Uebermacht irgend ein Vorrecht
einzuräumen,

Auch
und dem eingefuͤhrten Range der Nazionen.
§. 8.
d] Macht der Nazionen.

Der groͤßere Umfang des Staats, die Mehrheit der
Reiche und die ſtaͤrkere Anzal von Unterthanen, welche
ein Souverain beherſcht, geben an und vor ſich ebenfals
kein Recht des Vorrangs. Der Rieſe und der Zwerg
ſind als Menſchen einander volkommen gleich, und der
kleinſte freie Staat hat eben ſo viel Rechte als der groͤſte;
denn dieſe flieſſen nicht aus der Macht, wie Fuͤrſtenerius
lehrt, ſondern aus der Unabhaͤngigkeit, die, wenn ſie
volkommen ſeyn ſoll, bey allen Nazionen gleich ſeyn
muß. Allein der große und maͤchtige Staat, ſagen
Ickſtadt a], Vattel b], Real c] und andere, kan in der
Voͤlkergeſelſchaft eine weit anſehnlichere Rolle ſpielen
und den Zweck derſelben, die gemeinſchaftliche Sicher-
heit und Ruhe in einem weit ſtaͤrkern Grade befoͤrdern,
als ein kleiner. Es iſt daher vernuͤnftig und billig, daß
iener auch mehrere aͤuſſerliche Vorzuͤge genieße, und
daß dieſer ihm bey Gelegenheiten weiche, wo einer nach-
geben muß. Allein Billigkeit iſt noch kein Recht. In-
des iſt der Unterſchied der groͤßern und kleinern Reiche
freilich von ieher ſehr auffallend geweſen, und die Macht
hat ohnſtreitig die erſte Gelegenheit gegeben, ſich einen
Vorrang bey den uͤbrigen Nazionen, beſonders bey den
Mindermaͤchtigen zu verſchaffen d]. Aus Furcht vor der
Maͤchtigen Rache raͤumten ſie ihnen die verlangten Vor-
rechte willig ein. Eine Verbindlichkeit dazu iſt iedoch
nicht vorhanden. Eine Nazion, welche ihr Reich ſelbſt
hinlaͤnglich zu beſchuͤtzen und zu vertheidigen im Stande
iſt, folglich die uͤberwiegende Macht einer Groͤßern we-
der fuͤrchten noch ſuchen darf, hat nicht Urſach, dieſem
aus dem Grunde der Uebermacht irgend ein Vorrecht
einzuraͤumen,

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[207/0233] und dem eingefuͤhrten Range der Nazionen. §. 8. d] Macht der Nazionen. Der groͤßere Umfang des Staats, die Mehrheit der Reiche und die ſtaͤrkere Anzal von Unterthanen, welche ein Souverain beherſcht, geben an und vor ſich ebenfals kein Recht des Vorrangs. Der Rieſe und der Zwerg ſind als Menſchen einander volkommen gleich, und der kleinſte freie Staat hat eben ſo viel Rechte als der groͤſte; denn dieſe flieſſen nicht aus der Macht, wie Fuͤrſtenerius lehrt, ſondern aus der Unabhaͤngigkeit, die, wenn ſie volkommen ſeyn ſoll, bey allen Nazionen gleich ſeyn muß. Allein der große und maͤchtige Staat, ſagen Ickſtadt a], Vattel b], Real c] und andere, kan in der Voͤlkergeſelſchaft eine weit anſehnlichere Rolle ſpielen und den Zweck derſelben, die gemeinſchaftliche Sicher- heit und Ruhe in einem weit ſtaͤrkern Grade befoͤrdern, als ein kleiner. Es iſt daher vernuͤnftig und billig, daß iener auch mehrere aͤuſſerliche Vorzuͤge genieße, und daß dieſer ihm bey Gelegenheiten weiche, wo einer nach- geben muß. Allein Billigkeit iſt noch kein Recht. In- des iſt der Unterſchied der groͤßern und kleinern Reiche freilich von ieher ſehr auffallend geweſen, und die Macht hat ohnſtreitig die erſte Gelegenheit gegeben, ſich einen Vorrang bey den uͤbrigen Nazionen, beſonders bey den Mindermaͤchtigen zu verſchaffen d]. Aus Furcht vor der Maͤchtigen Rache raͤumten ſie ihnen die verlangten Vor- rechte willig ein. Eine Verbindlichkeit dazu iſt iedoch nicht vorhanden. Eine Nazion, welche ihr Reich ſelbſt hinlaͤnglich zu beſchuͤtzen und zu vertheidigen im Stande iſt, folglich die uͤberwiegende Macht einer Groͤßern we- der fuͤrchten noch ſuchen darf, hat nicht Urſach, dieſem aus dem Grunde der Uebermacht irgend ein Vorrecht einzuraͤumen, Auch

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Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/233>, abgerufen am 21.11.2024.