[Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.Volkes erwartete. Hab' ich es aber ahnen können, daß ich es war, der die Völker in die Thäler des Schreckens führen half! Daß ich meine Blumen zusammenbrachte, nur um ein Schaffot zu errichten! So wahr man mich damals Rousseau nannte, mein Herz wollte nur das Beste! Ich stieg die Ufer des Genfersees entlang, auf die höchsten Gipfel der Alpen, und machte sie zu meiner Sternwarte. Millionen Sterne tauchten aus der blauen Himmelsdecke, die wie ein Baldachin über die schlummernden Erdbewohner ausgebreitet war. Mein lauschendes Ohr vernahm die Seufzer, die der beängstigten Brust so vieler Dulder entfuhren. Sie rannen zu einer großen Blume zusammen, die ihre Blüthenblätter sehnsüchtig in die Seite des Himmels streckten. Sie flehten nach Linderung der Leiden, nach kühlendem Thau, und fanden Beides in ihren eigenen Thränen. Engel stiegen eine wie Harfentöne klingende Himmelsleiter herab, und flochten einen großen Blumenkranz, den sie rings um die Eiszinken der Alpen wanden. "Heil -- sangen sie, und es tönte lieblich wie Flöte und Glockenklang -- Heil allen müden Lebenspilgern! wir führen sie an die Quelle der ewigen Genesung! Sie haben ihr Leid verloren, denn über unsere Sänge haben sie es vergessen!" Ich stieg hinab in die Thäler, und die Volkes erwartete. Hab’ ich es aber ahnen können, daß ich es war, der die Völker in die Thäler des Schreckens führen half! Daß ich meine Blumen zusammenbrachte, nur um ein Schaffot zu errichten! So wahr man mich damals Rousseau nannte, mein Herz wollte nur das Beste! Ich stieg die Ufer des Genfersees entlang, auf die höchsten Gipfel der Alpen, und machte sie zu meiner Sternwarte. Millionen Sterne tauchten aus der blauen Himmelsdecke, die wie ein Baldachin über die schlummernden Erdbewohner ausgebreitet war. Mein lauschendes Ohr vernahm die Seufzer, die der beängstigten Brust so vieler Dulder entfuhren. Sie rannen zu einer großen Blume zusammen, die ihre Blüthenblätter sehnsüchtig in die Seite des Himmels streckten. Sie flehten nach Linderung der Leiden, nach kühlendem Thau, und fanden Beides in ihren eigenen Thränen. Engel stiegen eine wie Harfentöne klingende Himmelsleiter herab, und flochten einen großen Blumenkranz, den sie rings um die Eiszinken der Alpen wanden. »Heil — sangen sie, und es tönte lieblich wie Flöte und Glockenklang — Heil allen müden Lebenspilgern! wir führen sie an die Quelle der ewigen Genesung! Sie haben ihr Leid verloren, denn über unsere Sänge haben sie es vergessen!« Ich stieg hinab in die Thäler, und die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0240" n="227"/> Volkes erwartete. Hab’ ich es aber ahnen können, daß ich es war, der die Völker in die Thäler des Schreckens führen half! Daß ich meine Blumen zusammenbrachte, nur um ein Schaffot zu errichten! So wahr man mich damals <hi rendition="#g">Rousseau</hi> nannte, mein Herz wollte nur das Beste!</p> <p>Ich stieg die Ufer des Genfersees entlang, auf die höchsten Gipfel der Alpen, und machte sie zu meiner Sternwarte. Millionen Sterne tauchten aus der blauen Himmelsdecke, die wie ein Baldachin über die schlummernden Erdbewohner ausgebreitet war. Mein lauschendes Ohr vernahm die Seufzer, die der beängstigten Brust so vieler Dulder entfuhren. Sie rannen zu einer großen Blume zusammen, die ihre Blüthenblätter sehnsüchtig in die Seite des Himmels streckten. Sie flehten nach Linderung der Leiden, nach kühlendem Thau, und fanden Beides in ihren eigenen Thränen. Engel stiegen eine wie Harfentöne klingende Himmelsleiter herab, und flochten einen großen Blumenkranz, den sie rings um die Eiszinken der Alpen wanden. »Heil — sangen sie, und es tönte lieblich wie Flöte und Glockenklang — Heil allen müden Lebenspilgern! wir führen sie an die Quelle der ewigen Genesung! Sie haben ihr Leid verloren, denn über unsere Sänge haben sie es vergessen!« Ich stieg hinab in die Thäler, und die </p> </div> </body> </text> </TEI> [227/0240]
Volkes erwartete. Hab’ ich es aber ahnen können, daß ich es war, der die Völker in die Thäler des Schreckens führen half! Daß ich meine Blumen zusammenbrachte, nur um ein Schaffot zu errichten! So wahr man mich damals Rousseau nannte, mein Herz wollte nur das Beste!
Ich stieg die Ufer des Genfersees entlang, auf die höchsten Gipfel der Alpen, und machte sie zu meiner Sternwarte. Millionen Sterne tauchten aus der blauen Himmelsdecke, die wie ein Baldachin über die schlummernden Erdbewohner ausgebreitet war. Mein lauschendes Ohr vernahm die Seufzer, die der beängstigten Brust so vieler Dulder entfuhren. Sie rannen zu einer großen Blume zusammen, die ihre Blüthenblätter sehnsüchtig in die Seite des Himmels streckten. Sie flehten nach Linderung der Leiden, nach kühlendem Thau, und fanden Beides in ihren eigenen Thränen. Engel stiegen eine wie Harfentöne klingende Himmelsleiter herab, und flochten einen großen Blumenkranz, den sie rings um die Eiszinken der Alpen wanden. »Heil — sangen sie, und es tönte lieblich wie Flöte und Glockenklang — Heil allen müden Lebenspilgern! wir führen sie an die Quelle der ewigen Genesung! Sie haben ihr Leid verloren, denn über unsere Sänge haben sie es vergessen!« Ich stieg hinab in die Thäler, und die
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