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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

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Wir sollen Gott fürchten und lieben! Dies
eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich
kann es weder befolgen, noch mich anklagen
deßhalb, weil ich es nicht thue. Wir sollen
Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Welt¬
ansicht, welche eine unglückliche ist und freilich
sich nicht damit zufrieden giebt, daß jährlich
vier Jahreszeiten kommen und man im Früh¬
jahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch
ein so vortreffliches Surrogat der Vanille sind.
Es ist im Grunde nicht viel, was wir besitzen
auf Erden. Wir werden geboren oft in den
elendesten Verhältnissen. Wir kriechen thierisch
auf dem Boden und werden nur allmälig auf¬
gerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier
der Bildung. Noth, Mühsal verfolgt uns über¬
all; selten ein Genuß, der nicht durch eine
Anstrengung erkauft ist. Wir haben so viel mit
der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen
Stein wie Sisyphus den Berg hinauf; warum

Wir ſollen Gott fürchten und lieben! Dies
eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich
kann es weder befolgen, noch mich anklagen
deßhalb, weil ich es nicht thue. Wir ſollen
Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Welt¬
anſicht, welche eine unglückliche iſt und freilich
ſich nicht damit zufrieden giebt, daß jährlich
vier Jahreszeiten kommen und man im Früh¬
jahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch
ein ſo vortreffliches Surrogat der Vanille ſind.
Es iſt im Grunde nicht viel, was wir beſitzen
auf Erden. Wir werden geboren oft in den
elendeſten Verhältniſſen. Wir kriechen thieriſch
auf dem Boden und werden nur allmälig auf¬
gerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier
der Bildung. Noth, Mühſal verfolgt uns über¬
all; ſelten ein Genuß, der nicht durch eine
Anſtrengung erkauft iſt. Wir haben ſo viel mit
der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen
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[222/0231] Wir ſollen Gott fürchten und lieben! Dies eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich kann es weder befolgen, noch mich anklagen deßhalb, weil ich es nicht thue. Wir ſollen Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Welt¬ anſicht, welche eine unglückliche iſt und freilich ſich nicht damit zufrieden giebt, daß jährlich vier Jahreszeiten kommen und man im Früh¬ jahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch ein ſo vortreffliches Surrogat der Vanille ſind. Es iſt im Grunde nicht viel, was wir beſitzen auf Erden. Wir werden geboren oft in den elendeſten Verhältniſſen. Wir kriechen thieriſch auf dem Boden und werden nur allmälig auf¬ gerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier der Bildung. Noth, Mühſal verfolgt uns über¬ all; ſelten ein Genuß, der nicht durch eine Anſtrengung erkauft iſt. Wir haben ſo viel mit der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen Stein wie Siſyphus den Berg hinauf; warum

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/231>, abgerufen am 24.11.2024.