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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

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baren Erscheinungen liegt. Es giebt eine
Welt, die, wenn sie auch nur in unsern
Träumen lebte, sich eben so zusammensetzen
könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit
selbst, eine Welt, die wir durch Phantasie
und Vertrauen zu combiniren vermögen.
Schaale Gemüther wissen nur das, was ge¬
schieht; Begabte ahnen, was sein könnte;
Freie bauen sich ihre eigne Welt.

Zwei Garantien der unsichtbaren Welt sind
die Religion und die Poesie. Jene schließt
das Reich der Möglichkeit auf, um zu trö¬
sten; diese, weil sie die Wirklichkeit erklären
will. Beide beruhen auf Täuschungen, nur
ist die Poesie glücklicher, weil sie die Wahr¬
scheinlichkeit für sich hat. Es ist leichter, an
ein Gedicht, als an den Himmel glauben.
Die Ereignisse des Gedichtes sind oft die heim¬
[l]ichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die

baren Erſcheinungen liegt. Es giebt eine
Welt, die, wenn ſie auch nur in unſern
Träumen lebte, ſich eben ſo zuſammenſetzen
könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit
ſelbſt, eine Welt, die wir durch Phantaſie
und Vertrauen zu combiniren vermögen.
Schaale Gemüther wiſſen nur das, was ge¬
ſchieht; Begabte ahnen, was ſein könnte;
Freie bauen ſich ihre eigne Welt.

Zwei Garantien der unſichtbaren Welt ſind
die Religion und die Poeſie. Jene ſchließt
das Reich der Möglichkeit auf, um zu trö¬
ſten; dieſe, weil ſie die Wirklichkeit erklären
will. Beide beruhen auf Täuſchungen, nur
iſt die Poeſie glücklicher, weil ſie die Wahr¬
ſcheinlichkeit für ſich hat. Es iſt leichter, an
ein Gedicht, als an den Himmel glauben.
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[318/0327] baren Erſcheinungen liegt. Es giebt eine Welt, die, wenn ſie auch nur in unſern Träumen lebte, ſich eben ſo zuſammenſetzen könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit ſelbſt, eine Welt, die wir durch Phantaſie und Vertrauen zu combiniren vermögen. Schaale Gemüther wiſſen nur das, was ge¬ ſchieht; Begabte ahnen, was ſein könnte; Freie bauen ſich ihre eigne Welt. Zwei Garantien der unſichtbaren Welt ſind die Religion und die Poeſie. Jene ſchließt das Reich der Möglichkeit auf, um zu trö¬ ſten; dieſe, weil ſie die Wirklichkeit erklären will. Beide beruhen auf Täuſchungen, nur iſt die Poeſie glücklicher, weil ſie die Wahr¬ ſcheinlichkeit für ſich hat. Es iſt leichter, an ein Gedicht, als an den Himmel glauben. Die Ereigniſſe des Gedichtes ſind oft die heim¬ lichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/327>, abgerufen am 21.11.2024.