den Boden der Wirklichkeit berühren; das Uebrige überlassen sie der Combination und Phantasie. Dies sind die gemüthlichen Leser, die sich durch poetische Schöpfungen in einen sanften Halbschlummer wiegen lassen, die die Bücher nach der Elle consumiren. Es muß ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne lie¬ gen. Schwebend zwischen Himmel und Erde, ganz willenlos hingegeben den Capricen des Dichters, freuen sie sich zuletzt, daß nun Alles, was sie gelesen haben, doch entweder nicht wahr ist, oder im entgegengesetzten Falle im¬ mer sehr wahrscheinlich bleibe.
Die Wahrheit selbst ist unsichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich ist. Die poe¬ tische Wahrheit ist schöpferisch. Sie baut mit den geheimsten Fäden der menschlichen Seele, sie combinirt nicht, wie der Staat, die Fa¬ milie, die Religion, die Sitten und das Her¬
den Boden der Wirklichkeit berühren; das Uebrige überlaſſen ſie der Combination und Phantaſie. Dies ſind die gemüthlichen Leſer, die ſich durch poetiſche Schöpfungen in einen ſanften Halbſchlummer wiegen laſſen, die die Bücher nach der Elle conſumiren. Es muß ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne lie¬ gen. Schwebend zwiſchen Himmel und Erde, ganz willenlos hingegeben den Capricen des Dichters, freuen ſie ſich zuletzt, daß nun Alles, was ſie geleſen haben, doch entweder nicht wahr iſt, oder im entgegengeſetzten Falle im¬ mer ſehr wahrſcheinlich bleibe.
Die Wahrheit ſelbſt iſt unſichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich iſt. Die poe¬ tiſche Wahrheit iſt ſchöpferiſch. Sie baut mit den geheimſten Fäden der menſchlichen Seele, ſie combinirt nicht, wie der Staat, die Fa¬ milie, die Religion, die Sitten und das Her¬
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den Boden der Wirklichkeit berühren; das
Uebrige überlaſſen ſie der Combination und
Phantaſie. Dies ſind die gemüthlichen Leſer,
die ſich durch poetiſche Schöpfungen in einen
ſanften Halbſchlummer wiegen laſſen, die die
Bücher nach der Elle conſumiren. Es muß
ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne lie¬
gen. Schwebend zwiſchen Himmel und Erde,
ganz willenlos hingegeben den Capricen des
Dichters, freuen ſie ſich zuletzt, daß nun Alles,
was ſie geleſen haben, doch entweder nicht
wahr iſt, oder im entgegengeſetzten Falle im¬
mer ſehr wahrſcheinlich bleibe.
Die Wahrheit ſelbſt iſt unſichtbar und liegt
niemals in dem, was wirklich iſt. Die poe¬
tiſche Wahrheit iſt ſchöpferiſch. Sie baut mit
den geheimſten Fäden der menſchlichen Seele,
ſie combinirt nicht, wie der Staat, die Fa¬
milie, die Religion, die Sitten und das Her¬
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/331>, abgerufen am 21.11.2024.
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