Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.duldeten, hätte haben sollen. Um einen Kameraden von zarter und blödäugiger Natur stritten zwei ältre, die sich aber redlich im Besitze ihres Jdeals theilten. Sie hatten beide während der Lektionen stets ihren Arm um ihn geschlungen, und ich weiß, daß es viele gab, die das Glück dieser beiden aus der Ferne beneideten. Wenn meine Phantasie an etwas hängen blieb, so war es an jenem Knaben, von dem ein freundliches Wort zu bekommen, mir der größte Genuß gewesen wäre. Nach etwa sechs Jahren sah' ich ihn wieder, war täglich um ihn, er hatte keinen bloßen Hals mehr, keine offne Brust, er trug sich so patent, wie ich, und war mir in jeder Beziehung gleichgültig. Bei Frauen ist aber auch dieß anders. Jch bemerkte oft, daß sie noch in reiferem Alter errötheten, wenn sie ein weibliches Wesen sahen, in das sie einst verliebt waren, ohne diesem auch nur eine Ahnung davon einzuflößen. Wir haben so zahllose Darstellungen der Psychologie, aber keine noch wird über die mannigfachen Gestaltungen der Liebe Auskunft geben. Wir haben Anwendungen der Physik auf die Moral, wir haben Versuche, in der Physik hier und da moralische Lichtblicke und Ordnungen festzustellen; allein vergebens, daß wir von einem Philosophen erfahren könnten, unter welchen Umständen sich die Menschen zu verlieben pflegen. Man sagt, daß dieß in den Roman gehört. Jm Gegentheil, Cultur- und Naturgeschichte dürften von einer Untersuchung dieser Frage Vortheil ziehen. Wir würden sie duldeten, hätte haben sollen. Um einen Kameraden von zarter und blödäugiger Natur stritten zwei ältre, die sich aber redlich im Besitze ihres Jdeals theilten. Sie hatten beide während der Lektionen stets ihren Arm um ihn geschlungen, und ich weiß, daß es viele gab, die das Glück dieser beiden aus der Ferne beneideten. Wenn meine Phantasie an etwas hängen blieb, so war es an jenem Knaben, von dem ein freundliches Wort zu bekommen, mir der größte Genuß gewesen wäre. Nach etwa sechs Jahren sah’ ich ihn wieder, war täglich um ihn, er hatte keinen bloßen Hals mehr, keine offne Brust, er trug sich so patent, wie ich, und war mir in jeder Beziehung gleichgültig. Bei Frauen ist aber auch dieß anders. Jch bemerkte oft, daß sie noch in reiferem Alter errötheten, wenn sie ein weibliches Wesen sahen, in das sie einst verliebt waren, ohne diesem auch nur eine Ahnung davon einzuflößen. Wir haben so zahllose Darstellungen der Psychologie, aber keine noch wird über die mannigfachen Gestaltungen der Liebe Auskunft geben. Wir haben Anwendungen der Physik auf die Moral, wir haben Versuche, in der Physik hier und da moralische Lichtblicke und Ordnungen festzustellen; allein vergebens, daß wir von einem Philosophen erfahren könnten, unter welchen Umständen sich die Menschen zu verlieben pflegen. Man sagt, daß dieß in den Roman gehört. Jm Gegentheil, Cultur- und Naturgeschichte dürften von einer Untersuchung dieser Frage Vortheil ziehen. Wir würden sie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0073" n="45"/> duldeten, hätte haben sollen. Um einen Kameraden von zarter und blödäugiger Natur stritten zwei ältre, die sich aber redlich im Besitze ihres Jdeals theilten. Sie hatten beide während der Lektionen stets ihren Arm um ihn geschlungen, und ich weiß, daß es viele gab, die das Glück dieser beiden aus der Ferne beneideten. Wenn meine Phantasie an etwas hängen blieb, so war es an jenem Knaben, von dem ein freundliches Wort zu bekommen, mir der größte Genuß gewesen wäre. Nach etwa sechs Jahren sah’ ich ihn wieder, war täglich um ihn, er hatte keinen bloßen Hals mehr, keine offne Brust, er trug sich so patent, wie ich, und war mir in jeder Beziehung gleichgültig. Bei Frauen ist aber auch dieß anders. Jch bemerkte oft, daß sie noch in reiferem Alter errötheten, wenn sie ein weibliches Wesen sahen, in das sie einst verliebt waren, ohne diesem auch nur eine Ahnung davon einzuflößen.</p> <p>Wir haben so zahllose Darstellungen der Psychologie, aber keine noch wird über die mannigfachen Gestaltungen der Liebe Auskunft geben. Wir haben Anwendungen der Physik auf die Moral, wir haben Versuche, in der Physik hier und da moralische Lichtblicke und Ordnungen festzustellen; allein vergebens, daß wir von einem Philosophen erfahren könnten, unter welchen Umständen sich die Menschen zu verlieben pflegen. Man sagt, daß dieß in den Roman gehört. Jm Gegentheil, Cultur- und Naturgeschichte dürften von einer Untersuchung dieser Frage Vortheil ziehen. Wir würden sie </p> </div> </body> </text> </TEI> [45/0073]
duldeten, hätte haben sollen. Um einen Kameraden von zarter und blödäugiger Natur stritten zwei ältre, die sich aber redlich im Besitze ihres Jdeals theilten. Sie hatten beide während der Lektionen stets ihren Arm um ihn geschlungen, und ich weiß, daß es viele gab, die das Glück dieser beiden aus der Ferne beneideten. Wenn meine Phantasie an etwas hängen blieb, so war es an jenem Knaben, von dem ein freundliches Wort zu bekommen, mir der größte Genuß gewesen wäre. Nach etwa sechs Jahren sah’ ich ihn wieder, war täglich um ihn, er hatte keinen bloßen Hals mehr, keine offne Brust, er trug sich so patent, wie ich, und war mir in jeder Beziehung gleichgültig. Bei Frauen ist aber auch dieß anders. Jch bemerkte oft, daß sie noch in reiferem Alter errötheten, wenn sie ein weibliches Wesen sahen, in das sie einst verliebt waren, ohne diesem auch nur eine Ahnung davon einzuflößen.
Wir haben so zahllose Darstellungen der Psychologie, aber keine noch wird über die mannigfachen Gestaltungen der Liebe Auskunft geben. Wir haben Anwendungen der Physik auf die Moral, wir haben Versuche, in der Physik hier und da moralische Lichtblicke und Ordnungen festzustellen; allein vergebens, daß wir von einem Philosophen erfahren könnten, unter welchen Umständen sich die Menschen zu verlieben pflegen. Man sagt, daß dieß in den Roman gehört. Jm Gegentheil, Cultur- und Naturgeschichte dürften von einer Untersuchung dieser Frage Vortheil ziehen. Wir würden sie
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