Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

haben. Gut nennen sie aber keineswegs das, was klassisch ist, sondern jene vaguen und flachen Worte, die gewöhnlich und gemein genug sind, um die Notensäcke auf ihren Taglöhnerschultern zu tragen. Jch würde ein großer Komponist seyn, pflegt mancher Musiker zu sagen; hätt' ich nur einen guten Operntext! Wollte Shakespeare oder Göthe ihm einen schreiben, das würde seinen Wunsch kaum befriedigen. Die Dichtung muß gerade so lose und halb seyn, daß der Komponist ihr die Einheit und Abrundung geben kann. Die Sucht nach dramatisch-wirksamen Stoffen greift so um sich, daß man angefangen hat, möglichst jeden von der Dichtkunst schon benuzten Stoff in die Oper zu bringen. Aus dem heisern Othello des Shakespeare ist ein zärtlich-milder Tenorist bei Rossini geworden. Wilhelm Tell, von Schiller, singt keine Alpenjodler mehr, sondern Cavatinen und Recitative. Alle Revolutionen der Geschichte werden in der Oper abgesungen. Julius Cäsar, Catilina, Masaniello, Kosciusco wiegeln die Völker mit Trillern und Cadenzen auf. Möchte nur die Kunst dabei so gute Fortschritte machen, als, bei Kindern und Frauen wenigstens, hiedurch gewissermaßen die Kenntniß der Geschichte.

Kommen wir jezt auf die Dichter, so möge hier der Grundriß einer episch-dramatischen Dichtung stehen, wie ich mir den individuellen Gehalt der modernen Poesie entwickeln zu können vorstelle. Es ist

haben. Gut nennen sie aber keineswegs das, was klassisch ist, sondern jene vaguen und flachen Worte, die gewöhnlich und gemein genug sind, um die Notensäcke auf ihren Taglöhnerschultern zu tragen. Jch würde ein großer Komponist seyn, pflegt mancher Musiker zu sagen; hätt’ ich nur einen guten Operntext! Wollte Shakespeare oder Göthe ihm einen schreiben, das würde seinen Wunsch kaum befriedigen. Die Dichtung muß gerade so lose und halb seyn, daß der Komponist ihr die Einheit und Abrundung geben kann. Die Sucht nach dramatisch-wirksamen Stoffen greift so um sich, daß man angefangen hat, möglichst jeden von der Dichtkunst schon benuzten Stoff in die Oper zu bringen. Aus dem heisern Othello des Shakespeare ist ein zärtlich-milder Tenorist bei Rossini geworden. Wilhelm Tell, von Schiller, singt keine Alpenjodler mehr, sondern Cavatinen und Recitative. Alle Revolutionen der Geschichte werden in der Oper abgesungen. Julius Cäsar, Catilina, Masaniello, Kosciusco wiegeln die Völker mit Trillern und Cadenzen auf. Möchte nur die Kunst dabei so gute Fortschritte machen, als, bei Kindern und Frauen wenigstens, hiedurch gewissermaßen die Kenntniß der Geschichte.

Kommen wir jezt auf die Dichter, so möge hier der Grundriß einer episch-dramatischen Dichtung stehen, wie ich mir den individuellen Gehalt der modernen Poesie entwickeln zu können vorstelle. Es ist

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0260" n="258"/>
haben. Gut nennen sie aber keineswegs das, was klassisch ist, sondern jene vaguen und flachen Worte, die gewöhnlich und gemein genug sind, um die Notensäcke auf ihren Taglöhnerschultern zu tragen. Jch würde ein großer Komponist seyn, pflegt mancher Musiker zu sagen; hätt&#x2019; ich nur einen guten Operntext! Wollte <hi rendition="#g">Shakespeare</hi> oder <hi rendition="#g">Göthe</hi> ihm einen schreiben, das würde seinen Wunsch kaum befriedigen. Die Dichtung muß gerade so lose und halb seyn, daß der Komponist ihr die Einheit und Abrundung geben kann. Die Sucht nach dramatisch-wirksamen Stoffen greift so um sich, daß man angefangen hat, möglichst jeden von der Dichtkunst schon benuzten Stoff in die Oper zu bringen. Aus dem heisern <hi rendition="#g">Othello</hi> des <hi rendition="#g">Shakespeare</hi> ist ein zärtlich-milder Tenorist bei <hi rendition="#g">Rossini</hi> geworden. <hi rendition="#g">Wilhelm Tell</hi>, von <hi rendition="#g">Schiller</hi>, singt keine Alpenjodler mehr, sondern Cavatinen und Recitative. Alle Revolutionen der Geschichte werden in der Oper abgesungen. <hi rendition="#g">Julius Cäsar</hi>, <hi rendition="#g">Catilina</hi>, <hi rendition="#g">Masaniello</hi>, <hi rendition="#g">Kosciusco</hi> wiegeln die Völker mit Trillern und Cadenzen auf. Möchte nur die Kunst dabei so gute Fortschritte machen, als, bei Kindern und Frauen wenigstens, hiedurch gewissermaßen die Kenntniß der Geschichte.</p>
        <p>Kommen wir jezt auf die Dichter, so möge hier der Grundriß einer episch-dramatischen Dichtung stehen, wie ich mir den individuellen Gehalt der modernen Poesie entwickeln zu können vorstelle. Es ist
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[258/0260] haben. Gut nennen sie aber keineswegs das, was klassisch ist, sondern jene vaguen und flachen Worte, die gewöhnlich und gemein genug sind, um die Notensäcke auf ihren Taglöhnerschultern zu tragen. Jch würde ein großer Komponist seyn, pflegt mancher Musiker zu sagen; hätt’ ich nur einen guten Operntext! Wollte Shakespeare oder Göthe ihm einen schreiben, das würde seinen Wunsch kaum befriedigen. Die Dichtung muß gerade so lose und halb seyn, daß der Komponist ihr die Einheit und Abrundung geben kann. Die Sucht nach dramatisch-wirksamen Stoffen greift so um sich, daß man angefangen hat, möglichst jeden von der Dichtkunst schon benuzten Stoff in die Oper zu bringen. Aus dem heisern Othello des Shakespeare ist ein zärtlich-milder Tenorist bei Rossini geworden. Wilhelm Tell, von Schiller, singt keine Alpenjodler mehr, sondern Cavatinen und Recitative. Alle Revolutionen der Geschichte werden in der Oper abgesungen. Julius Cäsar, Catilina, Masaniello, Kosciusco wiegeln die Völker mit Trillern und Cadenzen auf. Möchte nur die Kunst dabei so gute Fortschritte machen, als, bei Kindern und Frauen wenigstens, hiedurch gewissermaßen die Kenntniß der Geschichte. Kommen wir jezt auf die Dichter, so möge hier der Grundriß einer episch-dramatischen Dichtung stehen, wie ich mir den individuellen Gehalt der modernen Poesie entwickeln zu können vorstelle. Es ist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/260
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/260>, abgerufen am 16.07.2024.