Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.umschließt und jeder auf des Andern Stirn das Kainszeichen der Schande erblickt. Die Kinder kennen die Schuld ihrer Väter, die Mütter sind so schuldig, wie die Gatten. Und dennoch liegt in der sichtlichen Blüthe dieser Colonien, in ihrem gewerblichen und sogar sittlichen Aufschwunge ein schöner Trost für die Menschheit. Die Narben der Brandmarkung bleichen aus; die blassen Wangen und die hohlen Augen fangen wieder ein edleres Feuer; die Gemüther erwärmen und rücken an einander, die Vergangenheit ist vergeben und vergessen. Das Gewissen ist durch den redlichen Willen, sich zu bessern und harte Arbeit, die überstanden werden mußte, gesühnt. Rom war eine Verbrecherkolonie von Albalonga; könnte man alle moralische Verworfenheit Europas in einen neuen Erdtheil bannen; würd' er uns nicht vielleicht bald überragen? Der Gedanke ist schauerlich; allein es liegt in seinem tiefsten Hintergrunde eine schöne Fernsicht in die menschliche Natur und die Ewigkeit des ihr von Gott eingeprägten Adels. Die Sittlichkeit würde immer wieder größer werden und mächtiger, als die Lust am Verbrechen. Wollte man zwölf Dieben, die auf eine entlegene Jnsel versezt würden, die Freiheit überlassen, sich ein Gesetzbuch und einen Staat zu machen; würden sie wohl zum Hauptprinzipe desselben den Diebstahl machen? Gewiß nicht. Diese Thatsache sollte uns allein schon ermuntern, alle Sorgfalt auf jene Unglücklichen zu verwenden, welche sich durch Verbrechen um ihre Ehre und Freiheit umschließt und jeder auf des Andern Stirn das Kainszeichen der Schande erblickt. Die Kinder kennen die Schuld ihrer Väter, die Mütter sind so schuldig, wie die Gatten. Und dennoch liegt in der sichtlichen Blüthe dieser Colonien, in ihrem gewerblichen und sogar sittlichen Aufschwunge ein schöner Trost für die Menschheit. Die Narben der Brandmarkung bleichen aus; die blassen Wangen und die hohlen Augen fangen wieder ein edleres Feuer; die Gemüther erwärmen und rücken an einander, die Vergangenheit ist vergeben und vergessen. Das Gewissen ist durch den redlichen Willen, sich zu bessern und harte Arbeit, die überstanden werden mußte, gesühnt. Rom war eine Verbrecherkolonie von Albalonga; könnte man alle moralische Verworfenheit Europas in einen neuen Erdtheil bannen; würd’ er uns nicht vielleicht bald überragen? Der Gedanke ist schauerlich; allein es liegt in seinem tiefsten Hintergrunde eine schöne Fernsicht in die menschliche Natur und die Ewigkeit des ihr von Gott eingeprägten Adels. Die Sittlichkeit würde immer wieder größer werden und mächtiger, als die Lust am Verbrechen. Wollte man zwölf Dieben, die auf eine entlegene Jnsel versezt würden, die Freiheit überlassen, sich ein Gesetzbuch und einen Staat zu machen; würden sie wohl zum Hauptprinzipe desselben den Diebstahl machen? Gewiß nicht. Diese Thatsache sollte uns allein schon ermuntern, alle Sorgfalt auf jene Unglücklichen zu verwenden, welche sich durch Verbrechen um ihre Ehre und Freiheit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0086" n="84"/> umschließt und jeder auf des Andern Stirn das Kainszeichen der Schande erblickt. Die Kinder kennen die Schuld ihrer Väter, die Mütter sind so schuldig, wie die Gatten. Und dennoch liegt in der sichtlichen Blüthe dieser Colonien, in ihrem gewerblichen und sogar sittlichen Aufschwunge ein schöner Trost für die Menschheit. Die Narben der Brandmarkung bleichen aus; die blassen Wangen und die hohlen Augen fangen wieder ein edleres Feuer; die Gemüther erwärmen und rücken an einander, die Vergangenheit ist vergeben und vergessen. Das Gewissen ist durch den redlichen Willen, sich zu bessern und harte Arbeit, die überstanden werden mußte, gesühnt. Rom war eine Verbrecherkolonie von Albalonga; könnte man alle moralische Verworfenheit Europas in einen neuen Erdtheil bannen; würd’ er uns nicht vielleicht bald überragen? Der Gedanke ist schauerlich; allein es liegt in seinem tiefsten Hintergrunde eine schöne Fernsicht in die menschliche Natur und die Ewigkeit des ihr von Gott eingeprägten Adels. Die Sittlichkeit würde immer wieder größer werden und mächtiger, als die Lust am Verbrechen. Wollte man zwölf Dieben, die auf eine entlegene Jnsel versezt würden, die Freiheit überlassen, sich ein Gesetzbuch und einen Staat zu machen; würden sie wohl zum Hauptprinzipe desselben den Diebstahl machen? Gewiß nicht. Diese Thatsache sollte uns allein schon ermuntern, alle Sorgfalt auf jene Unglücklichen zu verwenden, welche sich durch Verbrechen um ihre Ehre und Freiheit </p> </div> </body> </text> </TEI> [84/0086]
umschließt und jeder auf des Andern Stirn das Kainszeichen der Schande erblickt. Die Kinder kennen die Schuld ihrer Väter, die Mütter sind so schuldig, wie die Gatten. Und dennoch liegt in der sichtlichen Blüthe dieser Colonien, in ihrem gewerblichen und sogar sittlichen Aufschwunge ein schöner Trost für die Menschheit. Die Narben der Brandmarkung bleichen aus; die blassen Wangen und die hohlen Augen fangen wieder ein edleres Feuer; die Gemüther erwärmen und rücken an einander, die Vergangenheit ist vergeben und vergessen. Das Gewissen ist durch den redlichen Willen, sich zu bessern und harte Arbeit, die überstanden werden mußte, gesühnt. Rom war eine Verbrecherkolonie von Albalonga; könnte man alle moralische Verworfenheit Europas in einen neuen Erdtheil bannen; würd’ er uns nicht vielleicht bald überragen? Der Gedanke ist schauerlich; allein es liegt in seinem tiefsten Hintergrunde eine schöne Fernsicht in die menschliche Natur und die Ewigkeit des ihr von Gott eingeprägten Adels. Die Sittlichkeit würde immer wieder größer werden und mächtiger, als die Lust am Verbrechen. Wollte man zwölf Dieben, die auf eine entlegene Jnsel versezt würden, die Freiheit überlassen, sich ein Gesetzbuch und einen Staat zu machen; würden sie wohl zum Hauptprinzipe desselben den Diebstahl machen? Gewiß nicht. Diese Thatsache sollte uns allein schon ermuntern, alle Sorgfalt auf jene Unglücklichen zu verwenden, welche sich durch Verbrechen um ihre Ehre und Freiheit
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/86>, abgerufen am 16.07.2024. |