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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Empirie und Philosophie.
zeichnen. Freilich ist dieser gewaltige Umschwung bei weitem noch
nicht zu allgemeinem Durchbruch gelangt; die Mehrzahl der Biologen
ist noch zu sehr und zu allgemein in den Folgen der vorher überall
herrschenden einseitig empirischen Richtung befangen, als dass wir
die Rückkehr zur denkenden Naturbetrachtung als eine bewusste und
allgemeine bezeichnen könnten. Indess hat dieselbe doch bereits in
einigen Kreisen begonnen, an vielen Stellen feste Wurzel geschlagen,
und wird voraussichtlich nicht allein in den nächsten Jahren schon das
verlorene Terrain wieder erobern, sondern in wenigen Decennien sich
so allgemeine Geltung verschafft haben, dass man (wohl noch vor Ab-
lauf unseres Jahrhunderts) verwundert auf die Beschränktheit und Ver-
blendung zahlreicher Naturforscher zurückblicken wird, die heute noch die
Philosophie von dem Gebiete der Biologie ausschliessen wollen. Wir un-
sererseits sind unerschütterlich davon überzeugt, dass man in der wahrhaft
"erkennenden" Wissenschaft die Empirie und die Philosophie gar nicht
von einander trennen kann. Jene ist nur die erste und niederste,
diese die letzte und höchste Stufe der Erkenntniss. Alle wahre Na-
turwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie
ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist
in diesem Sinne Naturphilosophie
. 1)

In der That könnte heute schon die allgemein übliche einseitige Aus-
schliessung der Philosophie aus der Naturwissenschaft jedem objectiv dies
Verhältniss betrachtenden Gebildeten als ein befremdendes Räthsel erschei-
nen, wenn nicht der Entwickelungsgang der Biologie selbst ihm die Lösung
dieses Räthsels sehr nahe legte. Wenn wir die Geschichte unserer Wissen-
schaft in den allgemeinsten Zügen überblicken, so bemerken wir alsbald,
dass die beiden scheinbar entgegengesetzten, in der That aber innig ver-
bundenen Forschungsrichtungen in der Naturwissenschaft, die beobachtende
oder empirische und die denkende oder philosophische, zwar stets mehr oder
minder eng verbunden neben einander herlaufen, dass aber doch, wie es

1) Wir zweifeln nicht, dass diese Sätze, welche wir für unumstössliche
Wahrheiten
halten, bei dem gegenwärtigen niederen Zustande unserer allge-
meinen wissenschaftlichen Bildung noch sehr wenig Aussicht haben, allgemeine
Geltung zu erlangen. Durch die alpenhohe Gebirgskette von Vorurtheilen, welche
wir durch lange Generationsreihen ererbt, und Jahrtausende hindurch in unserer
allgemeinen Weltanschauung befestigt haben, durch den äusserst mangelhaften,
verkehrten und oft geradezu verderblichen Jugendunterricht, durch welchen
wir in der bildsamsten Lebenszeit mit den absurdesten Irrthümern, statt mit
natürlichen Wahrheiten angefüllt werden, ist unser gesammter geistiger Horizont
gewöhnlich so beschränkt, unser natürlicher Blick so getrübt, dass wir als reife
und erwachsene Männer gewöhnlich die grösste Mühe haben, den einfachen Weg
zu unserer Mutter "Natur" zurückzufinden. Sind ja die meisten sogenannten
"Wissenschaften," z. B. die historischen, gewohnt, den Menschen als etwas ausser
und über der Natur Stehendes hinzustellen!
5*

I. Empirie und Philosophie.
zeichnen. Freilich ist dieser gewaltige Umschwung bei weitem noch
nicht zu allgemeinem Durchbruch gelangt; die Mehrzahl der Biologen
ist noch zu sehr und zu allgemein in den Folgen der vorher überall
herrschenden einseitig empirischen Richtung befangen, als dass wir
die Rückkehr zur denkenden Naturbetrachtung als eine bewusste und
allgemeine bezeichnen könnten. Indess hat dieselbe doch bereits in
einigen Kreisen begonnen, an vielen Stellen feste Wurzel geschlagen,
und wird voraussichtlich nicht allein in den nächsten Jahren schon das
verlorene Terrain wieder erobern, sondern in wenigen Decennien sich
so allgemeine Geltung verschafft haben, dass man (wohl noch vor Ab-
lauf unseres Jahrhunderts) verwundert auf die Beschränktheit und Ver-
blendung zahlreicher Naturforscher zurückblicken wird, die heute noch die
Philosophie von dem Gebiete der Biologie ausschliessen wollen. Wir un-
sererseits sind unerschütterlich davon überzeugt, dass man in der wahrhaft
„erkennenden“ Wissenschaft die Empirie und die Philosophie gar nicht
von einander trennen kann. Jene ist nur die erste und niederste,
diese die letzte und höchste Stufe der Erkenntniss. Alle wahre Na-
turwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie
ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist
in diesem Sinne Naturphilosophie
. 1)

In der That könnte heute schon die allgemein übliche einseitige Aus-
schliessung der Philosophie aus der Naturwissenschaft jedem objectiv dies
Verhältniss betrachtenden Gebildeten als ein befremdendes Räthsel erschei-
nen, wenn nicht der Entwickelungsgang der Biologie selbst ihm die Lösung
dieses Räthsels sehr nahe legte. Wenn wir die Geschichte unserer Wissen-
schaft in den allgemeinsten Zügen überblicken, so bemerken wir alsbald,
dass die beiden scheinbar entgegengesetzten, in der That aber innig ver-
bundenen Forschungsrichtungen in der Naturwissenschaft, die beobachtende
oder empirische und die denkende oder philosophische, zwar stets mehr oder
minder eng verbunden neben einander herlaufen, dass aber doch, wie es

1) Wir zweifeln nicht, dass diese Sätze, welche wir für unumstössliche
Wahrheiten
halten, bei dem gegenwärtigen niederen Zustande unserer allge-
meinen wissenschaftlichen Bildung noch sehr wenig Aussicht haben, allgemeine
Geltung zu erlangen. Durch die alpenhohe Gebirgskette von Vorurtheilen, welche
wir durch lange Generationsreihen ererbt, und Jahrtausende hindurch in unserer
allgemeinen Weltanschauung befestigt haben, durch den äusserst mangelhaften,
verkehrten und oft geradezu verderblichen Jugendunterricht, durch welchen
wir in der bildsamsten Lebenszeit mit den absurdesten Irrthümern, statt mit
natürlichen Wahrheiten angefüllt werden, ist unser gesammter geistiger Horizont
gewöhnlich so beschränkt, unser natürlicher Blick so getrübt, dass wir als reife
und erwachsene Männer gewöhnlich die grösste Mühe haben, den einfachen Weg
zu unserer Mutter „Natur“ zurückzufinden. Sind ja die meisten sogenannten
„Wissenschaften,“ z. B. die historischen, gewohnt, den Menschen als etwas ausser
und über der Natur Stehendes hinzustellen!
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[67/0106] I. Empirie und Philosophie. zeichnen. Freilich ist dieser gewaltige Umschwung bei weitem noch nicht zu allgemeinem Durchbruch gelangt; die Mehrzahl der Biologen ist noch zu sehr und zu allgemein in den Folgen der vorher überall herrschenden einseitig empirischen Richtung befangen, als dass wir die Rückkehr zur denkenden Naturbetrachtung als eine bewusste und allgemeine bezeichnen könnten. Indess hat dieselbe doch bereits in einigen Kreisen begonnen, an vielen Stellen feste Wurzel geschlagen, und wird voraussichtlich nicht allein in den nächsten Jahren schon das verlorene Terrain wieder erobern, sondern in wenigen Decennien sich so allgemeine Geltung verschafft haben, dass man (wohl noch vor Ab- lauf unseres Jahrhunderts) verwundert auf die Beschränktheit und Ver- blendung zahlreicher Naturforscher zurückblicken wird, die heute noch die Philosophie von dem Gebiete der Biologie ausschliessen wollen. Wir un- sererseits sind unerschütterlich davon überzeugt, dass man in der wahrhaft „erkennenden“ Wissenschaft die Empirie und die Philosophie gar nicht von einander trennen kann. Jene ist nur die erste und niederste, diese die letzte und höchste Stufe der Erkenntniss. Alle wahre Na- turwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist in diesem Sinne Naturphilosophie. 1) In der That könnte heute schon die allgemein übliche einseitige Aus- schliessung der Philosophie aus der Naturwissenschaft jedem objectiv dies Verhältniss betrachtenden Gebildeten als ein befremdendes Räthsel erschei- nen, wenn nicht der Entwickelungsgang der Biologie selbst ihm die Lösung dieses Räthsels sehr nahe legte. Wenn wir die Geschichte unserer Wissen- schaft in den allgemeinsten Zügen überblicken, so bemerken wir alsbald, dass die beiden scheinbar entgegengesetzten, in der That aber innig ver- bundenen Forschungsrichtungen in der Naturwissenschaft, die beobachtende oder empirische und die denkende oder philosophische, zwar stets mehr oder minder eng verbunden neben einander herlaufen, dass aber doch, wie es 1) Wir zweifeln nicht, dass diese Sätze, welche wir für unumstössliche Wahrheiten halten, bei dem gegenwärtigen niederen Zustande unserer allge- meinen wissenschaftlichen Bildung noch sehr wenig Aussicht haben, allgemeine Geltung zu erlangen. Durch die alpenhohe Gebirgskette von Vorurtheilen, welche wir durch lange Generationsreihen ererbt, und Jahrtausende hindurch in unserer allgemeinen Weltanschauung befestigt haben, durch den äusserst mangelhaften, verkehrten und oft geradezu verderblichen Jugendunterricht, durch welchen wir in der bildsamsten Lebenszeit mit den absurdesten Irrthümern, statt mit natürlichen Wahrheiten angefüllt werden, ist unser gesammter geistiger Horizont gewöhnlich so beschränkt, unser natürlicher Blick so getrübt, dass wir als reife und erwachsene Männer gewöhnlich die grösste Mühe haben, den einfachen Weg zu unserer Mutter „Natur“ zurückzufinden. Sind ja die meisten sogenannten „Wissenschaften,“ z. B. die historischen, gewohnt, den Menschen als etwas ausser und über der Natur Stehendes hinzustellen! 5*

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/106>, abgerufen am 17.05.2024.