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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
Drittel des neunzehnten Jahrhunderts). Herrschaft der phantastisch-philo-
sophischen Morphologie (Aeltere Naturphilosophie). III. Periode: Cuvier
(geb. 1769). 1) Zweite empirische Periode. (Zweites Drittel des neun-
zehnten Jahrhunderts). Herrschaft der empirischen inneren Morphologie
(Anatomie). IV. Periode: Darwin (geb. 1808). Zweite philosophische
Periode
. Begonnen 1859. Herrschaft der empirisch-philosophischen Mor-
phologie (Neuere Naturphilosophie).

Indem wir die beiden Richtungen der organischen Morphologie, die
empirische und philosophische, so schroff einander gegenüberstellen, müssen
wir ausdrücklich bemerken, dass nur die grosse Masse der beschränkteren
und gröber organisirten Naturforscher es war, welche diesen Gegensatz in
seiner ganzen Schärfe ausbildete und entweder die eine oder die andere
Methode als die allein seligmachende pries und für die "eigentliche" Na-
turwissenschaft hielt. Die umfassenderen und feiner organisirten Naturfor-
forscher, und vor Allen die grossen Coryphaeen, deren Namen wir an die
Spitze der von ihnen beherrschten Perioden gestellt haben, waren stets
mehr oder minder überzeugt, dass nur eine innige Verbindung von Beob-
achtung und Theorie, von Empirie und Philosophie, den Fortschritt der Na-
turwissenschaft wahrhaft fördern könnte. Man pflegt gewöhnlich Cuvier
als den strengsten und exclusivsten Empiriker, als den abgesagtesten Feind
jeder Naturphilosophie hinzustellen. Und sind nicht seine besten Arbeiten,
seine werthvollsten Entdeckungen, wie z. B. die Aufstellung der 4 thieri-
schen Typen (Stämme), die Begründung des Gesetzes von der Correlation
der Theile, von den Causes finales, Ausflüsse der reinsten Naturphilosophie?
Ist nicht die von ihm neu begründete "vergleichende Anatomie" ihrem gan-
zen Wesen nach eine rein philosophische Wissenschaft, welche das empirische
Material der Zootomie bloss als Basis braucht? Ist es nicht lediglich der
Gedanke, die Theorie, welche auf der rein empirischen Zootomie als
nothwendiger Grundlage das philosophische Lehrgebäude der vergleichenden
Anatomie errichten? Und wenn Cuvier aus einem einzigen Zahne oder
Knochen eines fossilen Thieres die ganze Natur und systematische Stellung
desselben mit Sicherheit erkannte, war dies Beobachtung oder war es Re-
flexion? Betrachten wir andererseits den Stifter der älteren Naturphilo-
sophie, Lamarck, so brauchen wir, um den Vorwurf der Einseitigkeit zu
widerlegen, bloss darauf hinzuweisen, dass dieser eminente Mann seinen
Ruf als grosser Naturforscher grösstentheils einem vorwiegend descriptiven
Werke, der berühmten "Histoire naturelle des animaux sans vertebres" ver-
dankte. Seine "Philosophie zoologique," welche die Descendenz-Lehre zum

desselben Einflusses und derselben Anerkennung zu erfreuen hatten, wie Etienne
Geoffroy S. Hilaire
(geb. 1771) und Lorenz Oken (geb. 1779), die gewöhn-
lich als die Coryphaeen dieser Richtung vorangestellt werden.
1) Als hervorragende Coryphaeen dieser Periode würden wir hier noch Jo-
hannes Müller, Schleiden
und einige Andere hervorzuheben haben, wenn nicht
gerade diese bedeutendsten Manner, als wahrhaft philosophische Naturforscher,
sich von der grossen Einseitigkeit frei gehalten hätten, welche Cuvier's Schule
und der grosse Tross der Zeitgenossen zum extremsten Empirismus ausbildete.

Methodik der Morphologie der Organismen.
Drittel des neunzehnten Jahrhunderts). Herrschaft der phantastisch-philo-
sophischen Morphologie (Aeltere Naturphilosophie). III. Periode: Cuvier
(geb. 1769). 1) Zweite empirische Periode. (Zweites Drittel des neun-
zehnten Jahrhunderts). Herrschaft der empirischen inneren Morphologie
(Anatomie). IV. Periode: Darwin (geb. 1808). Zweite philosophische
Periode
. Begonnen 1859. Herrschaft der empirisch-philosophischen Mor-
phologie (Neuere Naturphilosophie).

Indem wir die beiden Richtungen der organischen Morphologie, die
empirische und philosophische, so schroff einander gegenüberstellen, müssen
wir ausdrücklich bemerken, dass nur die grosse Masse der beschränkteren
und gröber organisirten Naturforscher es war, welche diesen Gegensatz in
seiner ganzen Schärfe ausbildete und entweder die eine oder die andere
Methode als die allein seligmachende pries und für die „eigentliche“ Na-
turwissenschaft hielt. Die umfassenderen und feiner organisirten Naturfor-
forscher, und vor Allen die grossen Coryphaeen, deren Namen wir an die
Spitze der von ihnen beherrschten Perioden gestellt haben, waren stets
mehr oder minder überzeugt, dass nur eine innige Verbindung von Beob-
achtung und Theorie, von Empirie und Philosophie, den Fortschritt der Na-
turwissenschaft wahrhaft fördern könnte. Man pflegt gewöhnlich Cuvier
als den strengsten und exclusivsten Empiriker, als den abgesagtesten Feind
jeder Naturphilosophie hinzustellen. Und sind nicht seine besten Arbeiten,
seine werthvollsten Entdeckungen, wie z. B. die Aufstellung der 4 thieri-
schen Typen (Stämme), die Begründung des Gesetzes von der Correlation
der Theile, von den Causes finales, Ausflüsse der reinsten Naturphilosophie?
Ist nicht die von ihm neu begründete „vergleichende Anatomie“ ihrem gan-
zen Wesen nach eine rein philosophische Wissenschaft, welche das empirische
Material der Zootomie bloss als Basis braucht? Ist es nicht lediglich der
Gedanke, die Theorie, welche auf der rein empirischen Zootomie als
nothwendiger Grundlage das philosophische Lehrgebäude der vergleichenden
Anatomie errichten? Und wenn Cuvier aus einem einzigen Zahne oder
Knochen eines fossilen Thieres die ganze Natur und systematische Stellung
desselben mit Sicherheit erkannte, war dies Beobachtung oder war es Re-
flexion? Betrachten wir andererseits den Stifter der älteren Naturphilo-
sophie, Lamarck, so brauchen wir, um den Vorwurf der Einseitigkeit zu
widerlegen, bloss darauf hinzuweisen, dass dieser eminente Mann seinen
Ruf als grosser Naturforscher grösstentheils einem vorwiegend descriptiven
Werke, der berühmten „Histoire naturelle des animaux sans vertebres“ ver-
dankte. Seine „Philosophie zoologique,“ welche die Descendenz-Lehre zum

desselben Einflusses und derselben Anerkennung zu erfreuen hatten, wie Etienne
Geoffroy S. Hilaire
(geb. 1771) und Lorenz Oken (geb. 1779), die gewöhn-
lich als die Coryphaeen dieser Richtung vorangestellt werden.
1) Als hervorragende Coryphaeen dieser Periode würden wir hier noch Jo-
hannes Müller, Schleiden
und einige Andere hervorzuheben haben, wenn nicht
gerade diese bedeutendsten Manner, als wahrhaft philosophische Naturforscher,
sich von der grossen Einseitigkeit frei gehalten hätten, welche Cuvier’s Schule
und der grosse Tross der Zeitgenossen zum extremsten Empirismus ausbildete.
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[72/0111] Methodik der Morphologie der Organismen. Drittel des neunzehnten Jahrhunderts). Herrschaft der phantastisch-philo- sophischen Morphologie (Aeltere Naturphilosophie). III. Periode: Cuvier (geb. 1769). 1) Zweite empirische Periode. (Zweites Drittel des neun- zehnten Jahrhunderts). Herrschaft der empirischen inneren Morphologie (Anatomie). IV. Periode: Darwin (geb. 1808). Zweite philosophische Periode. Begonnen 1859. Herrschaft der empirisch-philosophischen Mor- phologie (Neuere Naturphilosophie). Indem wir die beiden Richtungen der organischen Morphologie, die empirische und philosophische, so schroff einander gegenüberstellen, müssen wir ausdrücklich bemerken, dass nur die grosse Masse der beschränkteren und gröber organisirten Naturforscher es war, welche diesen Gegensatz in seiner ganzen Schärfe ausbildete und entweder die eine oder die andere Methode als die allein seligmachende pries und für die „eigentliche“ Na- turwissenschaft hielt. Die umfassenderen und feiner organisirten Naturfor- forscher, und vor Allen die grossen Coryphaeen, deren Namen wir an die Spitze der von ihnen beherrschten Perioden gestellt haben, waren stets mehr oder minder überzeugt, dass nur eine innige Verbindung von Beob- achtung und Theorie, von Empirie und Philosophie, den Fortschritt der Na- turwissenschaft wahrhaft fördern könnte. Man pflegt gewöhnlich Cuvier als den strengsten und exclusivsten Empiriker, als den abgesagtesten Feind jeder Naturphilosophie hinzustellen. Und sind nicht seine besten Arbeiten, seine werthvollsten Entdeckungen, wie z. B. die Aufstellung der 4 thieri- schen Typen (Stämme), die Begründung des Gesetzes von der Correlation der Theile, von den Causes finales, Ausflüsse der reinsten Naturphilosophie? Ist nicht die von ihm neu begründete „vergleichende Anatomie“ ihrem gan- zen Wesen nach eine rein philosophische Wissenschaft, welche das empirische Material der Zootomie bloss als Basis braucht? Ist es nicht lediglich der Gedanke, die Theorie, welche auf der rein empirischen Zootomie als nothwendiger Grundlage das philosophische Lehrgebäude der vergleichenden Anatomie errichten? Und wenn Cuvier aus einem einzigen Zahne oder Knochen eines fossilen Thieres die ganze Natur und systematische Stellung desselben mit Sicherheit erkannte, war dies Beobachtung oder war es Re- flexion? Betrachten wir andererseits den Stifter der älteren Naturphilo- sophie, Lamarck, so brauchen wir, um den Vorwurf der Einseitigkeit zu widerlegen, bloss darauf hinzuweisen, dass dieser eminente Mann seinen Ruf als grosser Naturforscher grösstentheils einem vorwiegend descriptiven Werke, der berühmten „Histoire naturelle des animaux sans vertebres“ ver- dankte. Seine „Philosophie zoologique,“ welche die Descendenz-Lehre zum 1) 1) Als hervorragende Coryphaeen dieser Periode würden wir hier noch Jo- hannes Müller, Schleiden und einige Andere hervorzuheben haben, wenn nicht gerade diese bedeutendsten Manner, als wahrhaft philosophische Naturforscher, sich von der grossen Einseitigkeit frei gehalten hätten, welche Cuvier’s Schule und der grosse Tross der Zeitgenossen zum extremsten Empirismus ausbildete. 1) desselben Einflusses und derselben Anerkennung zu erfreuen hatten, wie Etienne Geoffroy S. Hilaire (geb. 1771) und Lorenz Oken (geb. 1779), die gewöhn- lich als die Coryphaeen dieser Richtung vorangestellt werden.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/111>, abgerufen am 17.05.2024.