Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Induction und Deduction.
nachfolgende, meist unbewusste Deduction die allgemeine und sichere
Geltung der Erfahrung erst begründete.

Wenn die Induction ausschliesslich in dem strengsten Sinne, wie
Schleiden will, die Methode der naturwissenschaftlichen Untersuchung
und Schlussfolgerung sein und bleiben sollte, so würde der Fortschritt
unserer Erkenntnisse und ganz besonders der Fortschritt in der Fest-
stellung allgemeiner Gesetze nur ein äusserst langsamer und allmähliger
sein; ja, wir würden sogar zur Aufstellung der allgemeinsten und
wichtigsten Naturgesetze niemals gelangen, und den allgemeinen Zu-
sammenhang der grössten und umfassendsten Erscheinungsreihen nie-
mals
erkennen. Zu diesen können wir immer nur durch deductive
Verstandes-Operationen gelangen, und zwar nur durch reichliche und
häufige, allerdings aber auch nur durch richtige und sehr vorsichtige
Anwendung der Deduction.

Induction und Deduction stehen nach unserer Ansicht in der
innigsten und nothwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise, wie
es Goethe von der Analyse und Synthese ausspricht: "Nur Beide
zusammen, wie Aus- und Ein-Athmen, machen das Leben der Wissen-
schaft." Mill ist sicher im vollkommensten Rechte, wenn er der De-
duction die grösste Zukunft prophezeit, und die Induction vorzüglich
nur als die erste Stufe, als das erste Stadium der Deduction gelten
lässt. Diese Vorbedingung ist für eine richtige Deduction aber auch
unerlässlich. Entweder muss eine directe Induction die Basis der gan-
zen deductiven Operation bilden, oder es muss statt jener directen
Induction eine andere Deduction zu Grunde liegen, die selbst wieder
direct oder indirect durch eine Induction sicher begründet ist. Es
muss also in allen Fällen, -- und dies hervorzuheben ist sehr wichtig --
eine Induction die Basis, den ersten Schritt des ganzen Schlussver-
fahrens bilden, und erst auf dieser Basis kann sich dann die Deduction
sicher aufbauen.

Es wird also dadurch, dass man die deductive Methode als die
wichtigste, fruchtbarste und bedeutendste der naturwissenschaftlichen
Forschung hinstellt, die Bedeutung der inductiven Methode keineswegs
geschmälert, sondern vielmehr nur insofern modificirt, als sie die noth-
wendige Basis, die unentbehrliche Einleitung der ersteren sein muss.
Wir können mithin allgemein aussprechen, dass die Induction die erste,
unentbehrlichste und allgemeinste Methode der Naturforschung sein
muss, dass aber die letztere, wenn sie zu allgemeinen Gesetzen ge-
langen, diese mit Sicherheit beweisen und den fundamentalen und all-
gemeinen Zusammenhang der Erscheinungen erkennen will, nicht bei
der Induction stehen bleiben darf, sondern sich zur Deduction wenden
muss. Die Induction gelangt durch vergleichende Zusammenstellung
vieler einzelner verwandter specieller Erfahrungen zur Aufstellung

6*

III. Induction und Deduction.
nachfolgende, meist unbewusste Deduction die allgemeine und sichere
Geltung der Erfahrung erst begründete.

Wenn die Induction ausschliesslich in dem strengsten Sinne, wie
Schleiden will, die Methode der naturwissenschaftlichen Untersuchung
und Schlussfolgerung sein und bleiben sollte, so würde der Fortschritt
unserer Erkenntnisse und ganz besonders der Fortschritt in der Fest-
stellung allgemeiner Gesetze nur ein äusserst langsamer und allmähliger
sein; ja, wir würden sogar zur Aufstellung der allgemeinsten und
wichtigsten Naturgesetze niemals gelangen, und den allgemeinen Zu-
sammenhang der grössten und umfassendsten Erscheinungsreihen nie-
mals
erkennen. Zu diesen können wir immer nur durch deductive
Verstandes-Operationen gelangen, und zwar nur durch reichliche und
häufige, allerdings aber auch nur durch richtige und sehr vorsichtige
Anwendung der Deduction.

Induction und Deduction stehen nach unserer Ansicht in der
innigsten und nothwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise, wie
es Goethe von der Analyse und Synthese ausspricht: „Nur Beide
zusammen, wie Aus- und Ein-Athmen, machen das Leben der Wissen-
schaft.“ Mill ist sicher im vollkommensten Rechte, wenn er der De-
duction die grösste Zukunft prophezeit, und die Induction vorzüglich
nur als die erste Stufe, als das erste Stadium der Deduction gelten
lässt. Diese Vorbedingung ist für eine richtige Deduction aber auch
unerlässlich. Entweder muss eine directe Induction die Basis der gan-
zen deductiven Operation bilden, oder es muss statt jener directen
Induction eine andere Deduction zu Grunde liegen, die selbst wieder
direct oder indirect durch eine Induction sicher begründet ist. Es
muss also in allen Fällen, — und dies hervorzuheben ist sehr wichtig —
eine Induction die Basis, den ersten Schritt des ganzen Schlussver-
fahrens bilden, und erst auf dieser Basis kann sich dann die Deduction
sicher aufbauen.

Es wird also dadurch, dass man die deductive Methode als die
wichtigste, fruchtbarste und bedeutendste der naturwissenschaftlichen
Forschung hinstellt, die Bedeutung der inductiven Methode keineswegs
geschmälert, sondern vielmehr nur insofern modificirt, als sie die noth-
wendige Basis, die unentbehrliche Einleitung der ersteren sein muss.
Wir können mithin allgemein aussprechen, dass die Induction die erste,
unentbehrlichste und allgemeinste Methode der Naturforschung sein
muss, dass aber die letztere, wenn sie zu allgemeinen Gesetzen ge-
langen, diese mit Sicherheit beweisen und den fundamentalen und all-
gemeinen Zusammenhang der Erscheinungen erkennen will, nicht bei
der Induction stehen bleiben darf, sondern sich zur Deduction wenden
muss. Die Induction gelangt durch vergleichende Zusammenstellung
vieler einzelner verwandter specieller Erfahrungen zur Aufstellung

6*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0122" n="83"/><fw place="top" type="header">III. Induction und Deduction.</fw><lb/>
nachfolgende, meist unbewusste <hi rendition="#g">Deduction</hi> die allgemeine und sichere<lb/>
Geltung der Erfahrung erst begründete.</p><lb/>
              <p>Wenn die Induction ausschliesslich in dem strengsten Sinne, wie<lb/><hi rendition="#g">Schleiden</hi> will, die Methode der naturwissenschaftlichen Untersuchung<lb/>
und Schlussfolgerung sein und bleiben sollte, so würde der Fortschritt<lb/>
unserer Erkenntnisse und ganz besonders der Fortschritt in der Fest-<lb/>
stellung allgemeiner Gesetze nur ein äusserst langsamer und allmähliger<lb/>
sein; ja, wir würden sogar zur Aufstellung der allgemeinsten und<lb/>
wichtigsten Naturgesetze <hi rendition="#g">niemals</hi> gelangen, und den allgemeinen Zu-<lb/>
sammenhang der grössten und umfassendsten Erscheinungsreihen <hi rendition="#g">nie-<lb/>
mals</hi> erkennen. Zu diesen können wir immer nur durch deductive<lb/>
Verstandes-Operationen gelangen, und zwar nur durch reichliche und<lb/>
häufige, allerdings aber auch nur durch richtige und sehr vorsichtige<lb/>
Anwendung der Deduction.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Induction</hi> und <hi rendition="#g">Deduction</hi> stehen nach unserer Ansicht in der<lb/>
innigsten und nothwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise, wie<lb/>
es <hi rendition="#g">Goethe</hi> von der <hi rendition="#g">Analyse</hi> und <hi rendition="#g">Synthese</hi> ausspricht: &#x201E;Nur Beide<lb/>
zusammen, wie Aus- und Ein-Athmen, machen das Leben der Wissen-<lb/>
schaft.&#x201C; <hi rendition="#g">Mill</hi> ist sicher im vollkommensten Rechte, wenn er der De-<lb/>
duction die grösste Zukunft prophezeit, und die Induction vorzüglich<lb/>
nur als die erste Stufe, als das erste Stadium der Deduction gelten<lb/>
lässt. Diese Vorbedingung ist für eine richtige Deduction aber auch<lb/>
unerlässlich. Entweder muss eine directe Induction die Basis der gan-<lb/>
zen deductiven Operation bilden, oder es muss statt jener directen<lb/>
Induction eine andere Deduction zu Grunde liegen, die selbst wieder<lb/>
direct oder indirect durch eine Induction sicher begründet ist. Es<lb/>
muss also in allen Fällen, &#x2014; und dies hervorzuheben ist sehr wichtig &#x2014;<lb/>
eine Induction die Basis, den ersten Schritt des ganzen Schlussver-<lb/>
fahrens bilden, und erst auf dieser Basis kann sich dann die Deduction<lb/>
sicher aufbauen.</p><lb/>
              <p>Es wird also dadurch, dass man die deductive Methode als die<lb/>
wichtigste, fruchtbarste und bedeutendste der naturwissenschaftlichen<lb/>
Forschung hinstellt, die Bedeutung der inductiven Methode keineswegs<lb/>
geschmälert, sondern vielmehr nur insofern modificirt, als sie die noth-<lb/>
wendige Basis, die unentbehrliche Einleitung der ersteren sein muss.<lb/>
Wir können mithin allgemein aussprechen, dass die Induction die erste,<lb/>
unentbehrlichste und allgemeinste Methode der Naturforschung sein<lb/>
muss, dass aber die letztere, wenn sie zu allgemeinen Gesetzen ge-<lb/>
langen, diese mit Sicherheit beweisen und den fundamentalen und all-<lb/>
gemeinen Zusammenhang der Erscheinungen erkennen will, nicht bei<lb/>
der Induction stehen bleiben darf, sondern sich zur Deduction wenden<lb/>
muss. Die Induction gelangt durch vergleichende Zusammenstellung<lb/>
vieler einzelner verwandter specieller Erfahrungen zur Aufstellung<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0122] III. Induction und Deduction. nachfolgende, meist unbewusste Deduction die allgemeine und sichere Geltung der Erfahrung erst begründete. Wenn die Induction ausschliesslich in dem strengsten Sinne, wie Schleiden will, die Methode der naturwissenschaftlichen Untersuchung und Schlussfolgerung sein und bleiben sollte, so würde der Fortschritt unserer Erkenntnisse und ganz besonders der Fortschritt in der Fest- stellung allgemeiner Gesetze nur ein äusserst langsamer und allmähliger sein; ja, wir würden sogar zur Aufstellung der allgemeinsten und wichtigsten Naturgesetze niemals gelangen, und den allgemeinen Zu- sammenhang der grössten und umfassendsten Erscheinungsreihen nie- mals erkennen. Zu diesen können wir immer nur durch deductive Verstandes-Operationen gelangen, und zwar nur durch reichliche und häufige, allerdings aber auch nur durch richtige und sehr vorsichtige Anwendung der Deduction. Induction und Deduction stehen nach unserer Ansicht in der innigsten und nothwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise, wie es Goethe von der Analyse und Synthese ausspricht: „Nur Beide zusammen, wie Aus- und Ein-Athmen, machen das Leben der Wissen- schaft.“ Mill ist sicher im vollkommensten Rechte, wenn er der De- duction die grösste Zukunft prophezeit, und die Induction vorzüglich nur als die erste Stufe, als das erste Stadium der Deduction gelten lässt. Diese Vorbedingung ist für eine richtige Deduction aber auch unerlässlich. Entweder muss eine directe Induction die Basis der gan- zen deductiven Operation bilden, oder es muss statt jener directen Induction eine andere Deduction zu Grunde liegen, die selbst wieder direct oder indirect durch eine Induction sicher begründet ist. Es muss also in allen Fällen, — und dies hervorzuheben ist sehr wichtig — eine Induction die Basis, den ersten Schritt des ganzen Schlussver- fahrens bilden, und erst auf dieser Basis kann sich dann die Deduction sicher aufbauen. Es wird also dadurch, dass man die deductive Methode als die wichtigste, fruchtbarste und bedeutendste der naturwissenschaftlichen Forschung hinstellt, die Bedeutung der inductiven Methode keineswegs geschmälert, sondern vielmehr nur insofern modificirt, als sie die noth- wendige Basis, die unentbehrliche Einleitung der ersteren sein muss. Wir können mithin allgemein aussprechen, dass die Induction die erste, unentbehrlichste und allgemeinste Methode der Naturforschung sein muss, dass aber die letztere, wenn sie zu allgemeinen Gesetzen ge- langen, diese mit Sicherheit beweisen und den fundamentalen und all- gemeinen Zusammenhang der Erscheinungen erkennen will, nicht bei der Induction stehen bleiben darf, sondern sich zur Deduction wenden muss. Die Induction gelangt durch vergleichende Zusammenstellung vieler einzelner verwandter specieller Erfahrungen zur Aufstellung 6*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/122
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/122>, abgerufen am 17.05.2024.