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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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IV. Dogmatik und Kritik.
logie einem dichten und undurchdringlichen Urwald, in welchem parasitische
Lianenstämme die mächtigsten und gesundesten Bäume umschlingen und
erdrücken, und in welchem das dichte Gewirr der Schlingpflanzen, das alle
Zwischenräume ausfüllt, keinen Lichtstrahl in das unheimliche Dunkel fallen
lässt. Was vermag solchem undurchdringlichen Gestrüpp gegenüber die
kritische Axt eines Einzelnen, wenn sie auch noch so scharf geschliffen wäre?
Allein den kommenden Generationen der jungen Ansiedler, die hier Schritt
für Schritt mit klarem kritischen Scharfblick und das bewusste Ziel fest im
Auge vordringen, wird es gelingen, diesen Urwald der dogmatischen Vor-
urtheile zu lichten, und die kritische Axt an die faulen Stämme der alten
Autoritäten zu legen.

Verfolgt man eines der zahlreichen Dogmen, von denen es in der
Morphologie wimmelt, näher bezüglich seiner Entstehung, so gewahrt man
alsbald, dass dabei theils absolute Willkühr, theils aber auch unrichtige
und unvollkommene Methode der Schlussfolgerung im Spiele ist. So ist es
vor Allem mit dem allmächtigen und weitest verbreiteten Dogma von der
Constanz und Selbstständigkeit der Species. Bei diesem, wie bei den mei-
sten anderen derartigen Dogmen ist es weniger die reine Willkühr eines
Phantasiegebildes, welche demselben Dauer und Geltung verleiht, als viel-
mehr die scheinbare Begründung des Dogma durch eine, allerdings mei-
stens höchst unvollständige und unreine Induction. Wie Schleiden sehr
richtig bemerkt, ist die dogmatische Methode in ihrer strengsten Consequenz
eine an sich unmögliche, und man muss immer mehr oder weniger eine Zeit
lang der kritischen Methode gefolgt sein, um nur zur dogmatischen Be-
handlungsweise kommen zu können. Schlagend zeigt sich hier wieder der
grosse Schaden, den die Vernachlässigung einer streng denkenden Unter-
suchungsmethode und die Verachtung der nothwendigen philosophischen
Vorbildung den Morphologen selbst zufügt. Freilich sind sie beständig ge-
zwungen, mit dem unentbehrlichen philosophischen Rüstzeug zu operiren:
sie bilden aus den unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen durch Ab-
straction die Begriffe, sie verbinden die Begriffe zu Urtheilen, und ziehen
aus der Combination der Urtheile ihre inductiven Schlüsse. Statt aber
diese wichtigsten Geistes-Operationen mit klarem Bewusstsein vorzunehmen,
sich ihrer hohen Bedeutung bewusst zu werden, ziehen es die Meisten vor, sie
ganz unverstanden zu gebrauchen; und da ist es denn nicht zu verwundern,
dass die kritische Erkenntniss des rechten Weges und Zieles verloren geht,
und dass sich der Verstand auf dogmatische Abwege verliert. Wie viele
Thorheiten und Irrthümer wären der biologischen Naturwissenschaft erspart
worden, wenn die richtige Erkenntniss dieses Verhältnisses eine allge-
meinere gewesen wäre, wenn man sich den kritischen Weg, der allein zum
Ziele führt, klar gemacht und dadurch die nöthige Vorsicht gegen die
vielen verführerischen Seitenpfade der dogmatischen Richtung gewonnen
hätte, die nirgends so häufig und so gefährlich sind, als auf dem weiten
und vielgestaltigen Boden der organischen Morphologie. Erfreuliche Re-
sultate für diese können wir erst dann erwarten, wenn allgemein kritische
Induction und Deduction als ausschliessliche Methode angewandt, und die
dogmatische Methode in den Bann gethan wird.

IV. Dogmatik und Kritik.
logie einem dichten und undurchdringlichen Urwald, in welchem parasitische
Lianenstämme die mächtigsten und gesundesten Bäume umschlingen und
erdrücken, und in welchem das dichte Gewirr der Schlingpflanzen, das alle
Zwischenräume ausfüllt, keinen Lichtstrahl in das unheimliche Dunkel fallen
lässt. Was vermag solchem undurchdringlichen Gestrüpp gegenüber die
kritische Axt eines Einzelnen, wenn sie auch noch so scharf geschliffen wäre?
Allein den kommenden Generationen der jungen Ansiedler, die hier Schritt
für Schritt mit klarem kritischen Scharfblick und das bewusste Ziel fest im
Auge vordringen, wird es gelingen, diesen Urwald der dogmatischen Vor-
urtheile zu lichten, und die kritische Axt an die faulen Stämme der alten
Autoritäten zu legen.

Verfolgt man eines der zahlreichen Dogmen, von denen es in der
Morphologie wimmelt, näher bezüglich seiner Entstehung, so gewahrt man
alsbald, dass dabei theils absolute Willkühr, theils aber auch unrichtige
und unvollkommene Methode der Schlussfolgerung im Spiele ist. So ist es
vor Allem mit dem allmächtigen und weitest verbreiteten Dogma von der
Constanz und Selbstständigkeit der Species. Bei diesem, wie bei den mei-
sten anderen derartigen Dogmen ist es weniger die reine Willkühr eines
Phantasiegebildes, welche demselben Dauer und Geltung verleiht, als viel-
mehr die scheinbare Begründung des Dogma durch eine, allerdings mei-
stens höchst unvollständige und unreine Induction. Wie Schleiden sehr
richtig bemerkt, ist die dogmatische Methode in ihrer strengsten Consequenz
eine an sich unmögliche, und man muss immer mehr oder weniger eine Zeit
lang der kritischen Methode gefolgt sein, um nur zur dogmatischen Be-
handlungsweise kommen zu können. Schlagend zeigt sich hier wieder der
grosse Schaden, den die Vernachlässigung einer streng denkenden Unter-
suchungsmethode und die Verachtung der nothwendigen philosophischen
Vorbildung den Morphologen selbst zufügt. Freilich sind sie beständig ge-
zwungen, mit dem unentbehrlichen philosophischen Rüstzeug zu operiren:
sie bilden aus den unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen durch Ab-
straction die Begriffe, sie verbinden die Begriffe zu Urtheilen, und ziehen
aus der Combination der Urtheile ihre inductiven Schlüsse. Statt aber
diese wichtigsten Geistes-Operationen mit klarem Bewusstsein vorzunehmen,
sich ihrer hohen Bedeutung bewusst zu werden, ziehen es die Meisten vor, sie
ganz unverstanden zu gebrauchen; und da ist es denn nicht zu verwundern,
dass die kritische Erkenntniss des rechten Weges und Zieles verloren geht,
und dass sich der Verstand auf dogmatische Abwege verliert. Wie viele
Thorheiten und Irrthümer wären der biologischen Naturwissenschaft erspart
worden, wenn die richtige Erkenntniss dieses Verhältnisses eine allge-
meinere gewesen wäre, wenn man sich den kritischen Weg, der allein zum
Ziele führt, klar gemacht und dadurch die nöthige Vorsicht gegen die
vielen verführerischen Seitenpfade der dogmatischen Richtung gewonnen
hätte, die nirgends so häufig und so gefährlich sind, als auf dem weiten
und vielgestaltigen Boden der organischen Morphologie. Erfreuliche Re-
sultate für diese können wir erst dann erwarten, wenn allgemein kritische
Induction und Deduction als ausschliessliche Methode angewandt, und die
dogmatische Methode in den Bann gethan wird.

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[93/0132] IV. Dogmatik und Kritik. logie einem dichten und undurchdringlichen Urwald, in welchem parasitische Lianenstämme die mächtigsten und gesundesten Bäume umschlingen und erdrücken, und in welchem das dichte Gewirr der Schlingpflanzen, das alle Zwischenräume ausfüllt, keinen Lichtstrahl in das unheimliche Dunkel fallen lässt. Was vermag solchem undurchdringlichen Gestrüpp gegenüber die kritische Axt eines Einzelnen, wenn sie auch noch so scharf geschliffen wäre? Allein den kommenden Generationen der jungen Ansiedler, die hier Schritt für Schritt mit klarem kritischen Scharfblick und das bewusste Ziel fest im Auge vordringen, wird es gelingen, diesen Urwald der dogmatischen Vor- urtheile zu lichten, und die kritische Axt an die faulen Stämme der alten Autoritäten zu legen. Verfolgt man eines der zahlreichen Dogmen, von denen es in der Morphologie wimmelt, näher bezüglich seiner Entstehung, so gewahrt man alsbald, dass dabei theils absolute Willkühr, theils aber auch unrichtige und unvollkommene Methode der Schlussfolgerung im Spiele ist. So ist es vor Allem mit dem allmächtigen und weitest verbreiteten Dogma von der Constanz und Selbstständigkeit der Species. Bei diesem, wie bei den mei- sten anderen derartigen Dogmen ist es weniger die reine Willkühr eines Phantasiegebildes, welche demselben Dauer und Geltung verleiht, als viel- mehr die scheinbare Begründung des Dogma durch eine, allerdings mei- stens höchst unvollständige und unreine Induction. Wie Schleiden sehr richtig bemerkt, ist die dogmatische Methode in ihrer strengsten Consequenz eine an sich unmögliche, und man muss immer mehr oder weniger eine Zeit lang der kritischen Methode gefolgt sein, um nur zur dogmatischen Be- handlungsweise kommen zu können. Schlagend zeigt sich hier wieder der grosse Schaden, den die Vernachlässigung einer streng denkenden Unter- suchungsmethode und die Verachtung der nothwendigen philosophischen Vorbildung den Morphologen selbst zufügt. Freilich sind sie beständig ge- zwungen, mit dem unentbehrlichen philosophischen Rüstzeug zu operiren: sie bilden aus den unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen durch Ab- straction die Begriffe, sie verbinden die Begriffe zu Urtheilen, und ziehen aus der Combination der Urtheile ihre inductiven Schlüsse. Statt aber diese wichtigsten Geistes-Operationen mit klarem Bewusstsein vorzunehmen, sich ihrer hohen Bedeutung bewusst zu werden, ziehen es die Meisten vor, sie ganz unverstanden zu gebrauchen; und da ist es denn nicht zu verwundern, dass die kritische Erkenntniss des rechten Weges und Zieles verloren geht, und dass sich der Verstand auf dogmatische Abwege verliert. Wie viele Thorheiten und Irrthümer wären der biologischen Naturwissenschaft erspart worden, wenn die richtige Erkenntniss dieses Verhältnisses eine allge- meinere gewesen wäre, wenn man sich den kritischen Weg, der allein zum Ziele führt, klar gemacht und dadurch die nöthige Vorsicht gegen die vielen verführerischen Seitenpfade der dogmatischen Richtung gewonnen hätte, die nirgends so häufig und so gefährlich sind, als auf dem weiten und vielgestaltigen Boden der organischen Morphologie. Erfreuliche Re- sultate für diese können wir erst dann erwarten, wenn allgemein kritische Induction und Deduction als ausschliessliche Methode angewandt, und die dogmatische Methode in den Bann gethan wird.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/132>, abgerufen am 21.11.2024.