Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite
Methodik der Morphologie der Organismen.

Dadurch, dass wir die Teleologie Kant's für einen überwundenen
Standpunkt erklären, wollen wir demselben natürlich in keiner Weise einen
Vorwurf machen und es vermindert unsere Verehrung dieses grossen Phi-
losophen und unsere Hochachtung vor seinen ausserordentlichen Verdiensten
auf dem Gebiete der Abiologie nicht im Geringsten, wenn wir demselben
die gleichen Verdienste auf dem biologischen Gebiete absprechen, und seine
Kritik der teleologischen Urtheilskraft für ein von der Basis an irrthüm-
liches Lehrgebäude halten. Wenn man bedenkt, auf welcher ausserordent-
lich niedrigen Stufe zu Kant's Zeit die gesammte empirische Biologie stand,
wie die Physiologie, die Entwickelungsgeschichte, die Morphologie der Or-
ganismen, als selbstständige Wissenschaften damals noch gar nicht anerkannt
waren, so finden wir hierin, und in den vitalistischen Vorurtheilen, die das
ganze Zeitalter gefangen hielten, Grund genug dafür, dass Kant an der
Möglichkeit einer wissenschaftlichen Biologie geradezu verzweifeln und die
Erklärung der lebendigen Natur für etwas Unmögliches halten konnte. Mit
anderen Worten heisst das nichts Anderes, als dass die gesammten Biolo-
gen gleiche Thoren sind, wie die vielen Träumer, welche den Stein der
Weisen suchten. Wenn die gesammte organische Natur, wie Kant behaup-
tet, in ihrem innersten Wesen unbegreiflich und unerkennbar ist, wenn
deren Erscheinungen nicht aus mechanisch wirkenden Ursachen erklärt wer-
den können, so sind alle Naturforscher, welche nach einer solchen Erklä-
rung streben und suchen, kindische Thoren. In dieser nothwendigen Con-
sequenz zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit der Teleologie und des davon
nicht trennbaren Vitalismus. Die Teleologie als wissenschaftliche Methode
ist in der That unmöglich; sie verneint sich selbst.

Wenn wir bedenken, dass eine Anzahl von Erscheinungen der organi-
schen Natur schon wirklich erklärt, dass die Gesetze für eine wenn auch
relativ noch kleine Zahl von biologischen Thatsachen bereits wirklich ge-
funden sind, und dass diesen Gesetzen dieselbe absolute Geltung zuge-
standen werden muss, wie jedem physikalisch-chemischen Gesetze, wenn
wir bedenken, dass eine wissenschaftliche Physiologie überhaupt nur durch
die strengste Ausschliessung jeder Teleologie möglich ist, so werden wir
die letztere auch aus dem Gebiete der organischen Morphologie vollständig
verbannen dürfen. Und am wenigsten werden wir, wenn wir diese Lehre
als wirkliche Wissenschaft ansehen, mit der heuchlerischen Miene, die viele
Morphologen lieben, erklären dürfen, dass wir uns demüthig mit der blossen
erbaulichen Betrachtung der Organismen begnügen und ja keinen indiscre-
ten Blick in das uns verschlossene Geheimniss ihrer "inneren Natur", ihres
causalen Wesens thun wollen.

Einen Punkt müssen wir hierbei schliesslich noch offen berühren. Die
meisten Morphologen der Neuzeit lieben es, die unversöhnliche Gegnerschaft
zwischen teleologischer und mechanischer Biologie dureh ein versöhnliches
Mäntelchen zu verdecken und einen Compromiss zwischen den beiden ent-
gegen gesetzten Extremen zu erstreben. Bis zu einer gewissen Grenze soll
die organische Natur erkennbar sein, und von da an soll die Erkennbarkeit
aufhören. Eine Reihe von biologischen Erscheinungen soll sich auf dem me-
chanischen Wege aus wirkenden Ursachen erklären lassen, der übrige Rest

Methodik der Morphologie der Organismen.

Dadurch, dass wir die Teleologie Kant’s für einen überwundenen
Standpunkt erklären, wollen wir demselben natürlich in keiner Weise einen
Vorwurf machen und es vermindert unsere Verehrung dieses grossen Phi-
losophen und unsere Hochachtung vor seinen ausserordentlichen Verdiensten
auf dem Gebiete der Abiologie nicht im Geringsten, wenn wir demselben
die gleichen Verdienste auf dem biologischen Gebiete absprechen, und seine
Kritik der teleologischen Urtheilskraft für ein von der Basis an irrthüm-
liches Lehrgebäude halten. Wenn man bedenkt, auf welcher ausserordent-
lich niedrigen Stufe zu Kant’s Zeit die gesammte empirische Biologie stand,
wie die Physiologie, die Entwickelungsgeschichte, die Morphologie der Or-
ganismen, als selbstständige Wissenschaften damals noch gar nicht anerkannt
waren, so finden wir hierin, und in den vitalistischen Vorurtheilen, die das
ganze Zeitalter gefangen hielten, Grund genug dafür, dass Kant an der
Möglichkeit einer wissenschaftlichen Biologie geradezu verzweifeln und die
Erklärung der lebendigen Natur für etwas Unmögliches halten konnte. Mit
anderen Worten heisst das nichts Anderes, als dass die gesammten Biolo-
gen gleiche Thoren sind, wie die vielen Träumer, welche den Stein der
Weisen suchten. Wenn die gesammte organische Natur, wie Kant behaup-
tet, in ihrem innersten Wesen unbegreiflich und unerkennbar ist, wenn
deren Erscheinungen nicht aus mechanisch wirkenden Ursachen erklärt wer-
den können, so sind alle Naturforscher, welche nach einer solchen Erklä-
rung streben und suchen, kindische Thoren. In dieser nothwendigen Con-
sequenz zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit der Teleologie und des davon
nicht trennbaren Vitalismus. Die Teleologie als wissenschaftliche Methode
ist in der That unmöglich; sie verneint sich selbst.

Wenn wir bedenken, dass eine Anzahl von Erscheinungen der organi-
schen Natur schon wirklich erklärt, dass die Gesetze für eine wenn auch
relativ noch kleine Zahl von biologischen Thatsachen bereits wirklich ge-
funden sind, und dass diesen Gesetzen dieselbe absolute Geltung zuge-
standen werden muss, wie jedem physikalisch-chemischen Gesetze, wenn
wir bedenken, dass eine wissenschaftliche Physiologie überhaupt nur durch
die strengste Ausschliessung jeder Teleologie möglich ist, so werden wir
die letztere auch aus dem Gebiete der organischen Morphologie vollständig
verbannen dürfen. Und am wenigsten werden wir, wenn wir diese Lehre
als wirkliche Wissenschaft ansehen, mit der heuchlerischen Miene, die viele
Morphologen lieben, erklären dürfen, dass wir uns demüthig mit der blossen
erbaulichen Betrachtung der Organismen begnügen und ja keinen indiscre-
ten Blick in das uns verschlossene Geheimniss ihrer „inneren Natur“, ihres
causalen Wesens thun wollen.

Einen Punkt müssen wir hierbei schliesslich noch offen berühren. Die
meisten Morphologen der Neuzeit lieben es, die unversöhnliche Gegnerschaft
zwischen teleologischer und mechanischer Biologie dureh ein versöhnliches
Mäntelchen zu verdecken und einen Compromiss zwischen den beiden ent-
gegen gesetzten Extremen zu erstreben. Bis zu einer gewissen Grenze soll
die organische Natur erkennbar sein, und von da an soll die Erkennbarkeit
aufhören. Eine Reihe von biologischen Erscheinungen soll sich auf dem me-
chanischen Wege aus wirkenden Ursachen erklären lassen, der übrige Rest

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0143" n="104"/>
              <fw place="top" type="header">Methodik der Morphologie der Organismen.</fw><lb/>
              <p>Dadurch, dass wir die Teleologie <hi rendition="#g">Kant&#x2019;s</hi> für einen überwundenen<lb/>
Standpunkt erklären, wollen wir demselben natürlich in keiner Weise einen<lb/>
Vorwurf machen und es vermindert unsere Verehrung dieses grossen Phi-<lb/>
losophen und unsere Hochachtung vor seinen ausserordentlichen Verdiensten<lb/>
auf dem Gebiete der Abiologie nicht im Geringsten, wenn wir demselben<lb/>
die gleichen Verdienste auf dem biologischen Gebiete absprechen, und seine<lb/>
Kritik der teleologischen Urtheilskraft für ein von der Basis an irrthüm-<lb/>
liches Lehrgebäude halten. Wenn man bedenkt, auf welcher ausserordent-<lb/>
lich niedrigen Stufe zu <hi rendition="#g">Kant&#x2019;s</hi> Zeit die gesammte empirische Biologie stand,<lb/>
wie die Physiologie, die Entwickelungsgeschichte, die Morphologie der Or-<lb/>
ganismen, als selbstständige Wissenschaften damals noch gar nicht anerkannt<lb/>
waren, so finden wir hierin, und in den vitalistischen Vorurtheilen, die das<lb/>
ganze Zeitalter gefangen hielten, Grund genug dafür, dass <hi rendition="#g">Kant</hi> an der<lb/>
Möglichkeit einer wissenschaftlichen Biologie geradezu verzweifeln und die<lb/>
Erklärung der lebendigen Natur für etwas Unmögliches halten konnte. Mit<lb/>
anderen Worten heisst das nichts Anderes, als dass die gesammten Biolo-<lb/>
gen gleiche Thoren sind, wie die vielen Träumer, welche den Stein der<lb/>
Weisen suchten. Wenn die gesammte organische Natur, wie <hi rendition="#g">Kant</hi> behaup-<lb/>
tet, in ihrem innersten Wesen unbegreiflich und unerkennbar ist, wenn<lb/>
deren Erscheinungen nicht aus mechanisch wirkenden Ursachen erklärt wer-<lb/>
den können, so sind alle Naturforscher, welche nach einer solchen Erklä-<lb/>
rung streben und suchen, kindische Thoren. In dieser nothwendigen Con-<lb/>
sequenz zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit der Teleologie und des davon<lb/>
nicht trennbaren Vitalismus. Die Teleologie als wissenschaftliche Methode<lb/>
ist in der That unmöglich; sie verneint sich selbst.</p><lb/>
              <p>Wenn wir bedenken, dass eine Anzahl von Erscheinungen der organi-<lb/>
schen Natur schon wirklich erklärt, dass die Gesetze für eine wenn auch<lb/>
relativ noch kleine Zahl von biologischen Thatsachen bereits wirklich ge-<lb/>
funden sind, und dass diesen Gesetzen dieselbe absolute Geltung zuge-<lb/>
standen werden muss, wie jedem physikalisch-chemischen Gesetze, wenn<lb/>
wir bedenken, dass eine wissenschaftliche Physiologie überhaupt nur durch<lb/>
die strengste Ausschliessung jeder Teleologie möglich ist, so werden wir<lb/>
die letztere auch aus dem Gebiete der organischen Morphologie vollständig<lb/>
verbannen dürfen. Und am wenigsten werden wir, wenn wir diese Lehre<lb/>
als wirkliche Wissenschaft ansehen, mit der heuchlerischen Miene, die viele<lb/>
Morphologen lieben, erklären dürfen, dass wir uns demüthig mit der blossen<lb/>
erbaulichen Betrachtung der Organismen begnügen und ja keinen indiscre-<lb/>
ten Blick in das uns verschlossene Geheimniss ihrer &#x201E;inneren Natur&#x201C;, ihres<lb/>
causalen Wesens thun wollen.</p><lb/>
              <p>Einen Punkt müssen wir hierbei schliesslich noch offen berühren. Die<lb/>
meisten Morphologen der Neuzeit lieben es, die unversöhnliche Gegnerschaft<lb/>
zwischen teleologischer und mechanischer Biologie dureh ein versöhnliches<lb/>
Mäntelchen zu verdecken und einen Compromiss zwischen den beiden ent-<lb/>
gegen gesetzten Extremen zu erstreben. Bis zu einer gewissen Grenze soll<lb/>
die organische Natur erkennbar sein, und von da an soll die Erkennbarkeit<lb/>
aufhören. Eine Reihe von biologischen Erscheinungen soll sich auf dem me-<lb/>
chanischen Wege aus wirkenden Ursachen erklären lassen, der übrige Rest<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0143] Methodik der Morphologie der Organismen. Dadurch, dass wir die Teleologie Kant’s für einen überwundenen Standpunkt erklären, wollen wir demselben natürlich in keiner Weise einen Vorwurf machen und es vermindert unsere Verehrung dieses grossen Phi- losophen und unsere Hochachtung vor seinen ausserordentlichen Verdiensten auf dem Gebiete der Abiologie nicht im Geringsten, wenn wir demselben die gleichen Verdienste auf dem biologischen Gebiete absprechen, und seine Kritik der teleologischen Urtheilskraft für ein von der Basis an irrthüm- liches Lehrgebäude halten. Wenn man bedenkt, auf welcher ausserordent- lich niedrigen Stufe zu Kant’s Zeit die gesammte empirische Biologie stand, wie die Physiologie, die Entwickelungsgeschichte, die Morphologie der Or- ganismen, als selbstständige Wissenschaften damals noch gar nicht anerkannt waren, so finden wir hierin, und in den vitalistischen Vorurtheilen, die das ganze Zeitalter gefangen hielten, Grund genug dafür, dass Kant an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Biologie geradezu verzweifeln und die Erklärung der lebendigen Natur für etwas Unmögliches halten konnte. Mit anderen Worten heisst das nichts Anderes, als dass die gesammten Biolo- gen gleiche Thoren sind, wie die vielen Träumer, welche den Stein der Weisen suchten. Wenn die gesammte organische Natur, wie Kant behaup- tet, in ihrem innersten Wesen unbegreiflich und unerkennbar ist, wenn deren Erscheinungen nicht aus mechanisch wirkenden Ursachen erklärt wer- den können, so sind alle Naturforscher, welche nach einer solchen Erklä- rung streben und suchen, kindische Thoren. In dieser nothwendigen Con- sequenz zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit der Teleologie und des davon nicht trennbaren Vitalismus. Die Teleologie als wissenschaftliche Methode ist in der That unmöglich; sie verneint sich selbst. Wenn wir bedenken, dass eine Anzahl von Erscheinungen der organi- schen Natur schon wirklich erklärt, dass die Gesetze für eine wenn auch relativ noch kleine Zahl von biologischen Thatsachen bereits wirklich ge- funden sind, und dass diesen Gesetzen dieselbe absolute Geltung zuge- standen werden muss, wie jedem physikalisch-chemischen Gesetze, wenn wir bedenken, dass eine wissenschaftliche Physiologie überhaupt nur durch die strengste Ausschliessung jeder Teleologie möglich ist, so werden wir die letztere auch aus dem Gebiete der organischen Morphologie vollständig verbannen dürfen. Und am wenigsten werden wir, wenn wir diese Lehre als wirkliche Wissenschaft ansehen, mit der heuchlerischen Miene, die viele Morphologen lieben, erklären dürfen, dass wir uns demüthig mit der blossen erbaulichen Betrachtung der Organismen begnügen und ja keinen indiscre- ten Blick in das uns verschlossene Geheimniss ihrer „inneren Natur“, ihres causalen Wesens thun wollen. Einen Punkt müssen wir hierbei schliesslich noch offen berühren. Die meisten Morphologen der Neuzeit lieben es, die unversöhnliche Gegnerschaft zwischen teleologischer und mechanischer Biologie dureh ein versöhnliches Mäntelchen zu verdecken und einen Compromiss zwischen den beiden ent- gegen gesetzten Extremen zu erstreben. Bis zu einer gewissen Grenze soll die organische Natur erkennbar sein, und von da an soll die Erkennbarkeit aufhören. Eine Reihe von biologischen Erscheinungen soll sich auf dem me- chanischen Wege aus wirkenden Ursachen erklären lassen, der übrige Rest

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/143
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/143>, abgerufen am 19.05.2024.