Körper, oder doch der grösste Theil desselben, aus imbibitionsfähiger Materie besteht. Krystallisation und Imbibition schliessen sich aber, wie oben bemerkt, aus. Wir haben daher gewiss in der für das Leben unentbehrlichen Quellungsfähigkeit der organischen Materien die nächste Ursache für die nicht krystallinische Form der meisten Organismen zu suchen.
Nächst der Imbibitionsfähigkeit, und in der nächsten Beziehung und Verbindung mit ihr, ist es dann ferner die unbegrenzte Varia- bilität der Organismen, welche, wie oben bemerkt (p. 26), eine stereometrische Betrachtung, Ausmessung und Berechnung der meisten organischen Formen in gleicher Weise, wie sie die Krystallographie für die Anorgane giebt, illusorisch macht. Die Individuen der orga- nischen "Arten" (Species) sind nicht, wie die Individuen der anorga- nischen Arten, einander (innerhalb des Species-Begriffes) gleich, oder auch nur in allen wesentlichen Stücken ähnlich. Vielmehr haben wir die allgemeine Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit aller Orga- nismen als eine äusserst wesentliche Grundeigenschaft derselben zu constatiren. Indem alle Individuen unter einander ungleich sind, und daher auch eine gemeinsame stereometrische Grundform nur für eine bestimmte Summe von Individuen, welche innerhalb eines beschränkten Zeitraums (z. B. einige geologische Perioden hindurch) existiren, auf- gestellt werden kann, so würde die genaueste stereometrische Aus- messung und Berechnung der Organismen-Formen, ihrer complicirten gekrümmten Begrenzungsflächen, Linien etc., auch wenn sie möglich wäre, nur ein ganz untergeordnetes Interesse haben. Dagegen ist eine allgemeine Betrachtung der stereometrischen Grundformen, welche den Organismen-Formen zu Grunde liegen, allerdings möglich, und wie das vierte Buch zeigen wird, innerhalb gewisser Schranken ausführbar. In gewissem Sinne entspricht diese Promorphologie der Krystallographie, ist das Aequivalent einer "Krystallographie der Organismen", und man kann diesen Vergleich noch durch die Erwägung näher begründen, dass auch bei den reinen anorganischen Krystallen die vollkommene stereometrische Grundform äusserst selten (oder nie) in der Natur realisirt vorkommt, und daher stets mehr oder minder eine (durch Er- gänzung vieler einzelner verglichener concreter Krystall-Individuen erhaltene) ideale Abstraction darstellt. Die Unvollkommenheiten der allermeisten realen Krystall-Individuen sind durch Anpassung ihrer Form an die Umgebung bestimmt, welche während ihrer Entstehung wirksam war.1) In gleicher Weise, nur in viel höherem Grade, wirkt
1) Ganz besonders merkwürdig erscheinen durch die unendliche Mannich- faltigkeit der individuellen Formen die complicirten Krystalle des Schnee's, welche zugleich desshalb von besonderem Interesse sind, weil hier die Anpassungs-Be- dingungen verhältnissmässig einfache sind.
II. Organische und anorganische Formen.
Körper, oder doch der grösste Theil desselben, aus imbibitionsfähiger Materie besteht. Krystallisation und Imbibition schliessen sich aber, wie oben bemerkt, aus. Wir haben daher gewiss in der für das Leben unentbehrlichen Quellungsfähigkeit der organischen Materien die nächste Ursache für die nicht krystallinische Form der meisten Organismen zu suchen.
Nächst der Imbibitionsfähigkeit, und in der nächsten Beziehung und Verbindung mit ihr, ist es dann ferner die unbegrenzte Varia- bilität der Organismen, welche, wie oben bemerkt (p. 26), eine stereometrische Betrachtung, Ausmessung und Berechnung der meisten organischen Formen in gleicher Weise, wie sie die Krystallographie für die Anorgane giebt, illusorisch macht. Die Individuen der orga- nischen „Arten“ (Species) sind nicht, wie die Individuen der anorga- nischen Arten, einander (innerhalb des Species-Begriffes) gleich, oder auch nur in allen wesentlichen Stücken ähnlich. Vielmehr haben wir die allgemeine Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit aller Orga- nismen als eine äusserst wesentliche Grundeigenschaft derselben zu constatiren. Indem alle Individuen unter einander ungleich sind, und daher auch eine gemeinsame stereometrische Grundform nur für eine bestimmte Summe von Individuen, welche innerhalb eines beschränkten Zeitraums (z. B. einige geologische Perioden hindurch) existiren, auf- gestellt werden kann, so würde die genaueste stereometrische Aus- messung und Berechnung der Organismen-Formen, ihrer complicirten gekrümmten Begrenzungsflächen, Linien etc., auch wenn sie möglich wäre, nur ein ganz untergeordnetes Interesse haben. Dagegen ist eine allgemeine Betrachtung der stereometrischen Grundformen, welche den Organismen-Formen zu Grunde liegen, allerdings möglich, und wie das vierte Buch zeigen wird, innerhalb gewisser Schranken ausführbar. In gewissem Sinne entspricht diese Promorphologie der Krystallographie, ist das Aequivalent einer „Krystallographie der Organismen“, und man kann diesen Vergleich noch durch die Erwägung näher begründen, dass auch bei den reinen anorganischen Krystallen die vollkommene stereometrische Grundform äusserst selten (oder nie) in der Natur realisirt vorkommt, und daher stets mehr oder minder eine (durch Er- gänzung vieler einzelner verglichener concreter Krystall-Individuen erhaltene) ideale Abstraction darstellt. Die Unvollkommenheiten der allermeisten realen Krystall-Individuen sind durch Anpassung ihrer Form an die Umgebung bestimmt, welche während ihrer Entstehung wirksam war.1) In gleicher Weise, nur in viel höherem Grade, wirkt
1) Ganz besonders merkwürdig erscheinen durch die unendliche Mannich- faltigkeit der individuellen Formen die complicirten Krystalle des Schnee’s, welche zugleich desshalb von besonderem Interesse sind, weil hier die Anpassungs-Be- dingungen verhältnissmässig einfache sind.
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II. Organische und anorganische Formen.
Körper, oder doch der grösste Theil desselben, aus imbibitionsfähiger
Materie besteht. Krystallisation und Imbibition schliessen sich aber,
wie oben bemerkt, aus. Wir haben daher gewiss in der für das
Leben unentbehrlichen Quellungsfähigkeit der organischen
Materien die nächste Ursache für die nicht krystallinische
Form der meisten Organismen zu suchen.
Nächst der Imbibitionsfähigkeit, und in der nächsten Beziehung
und Verbindung mit ihr, ist es dann ferner die unbegrenzte Varia-
bilität der Organismen, welche, wie oben bemerkt (p. 26), eine
stereometrische Betrachtung, Ausmessung und Berechnung der meisten
organischen Formen in gleicher Weise, wie sie die Krystallographie
für die Anorgane giebt, illusorisch macht. Die Individuen der orga-
nischen „Arten“ (Species) sind nicht, wie die Individuen der anorga-
nischen Arten, einander (innerhalb des Species-Begriffes) gleich, oder
auch nur in allen wesentlichen Stücken ähnlich. Vielmehr haben wir
die allgemeine Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit aller Orga-
nismen als eine äusserst wesentliche Grundeigenschaft derselben zu
constatiren. Indem alle Individuen unter einander ungleich sind, und
daher auch eine gemeinsame stereometrische Grundform nur für eine
bestimmte Summe von Individuen, welche innerhalb eines beschränkten
Zeitraums (z. B. einige geologische Perioden hindurch) existiren, auf-
gestellt werden kann, so würde die genaueste stereometrische Aus-
messung und Berechnung der Organismen-Formen, ihrer complicirten
gekrümmten Begrenzungsflächen, Linien etc., auch wenn sie möglich
wäre, nur ein ganz untergeordnetes Interesse haben. Dagegen ist eine
allgemeine Betrachtung der stereometrischen Grundformen, welche den
Organismen-Formen zu Grunde liegen, allerdings möglich, und wie
das vierte Buch zeigen wird, innerhalb gewisser Schranken ausführbar.
In gewissem Sinne entspricht diese Promorphologie der Krystallographie,
ist das Aequivalent einer „Krystallographie der Organismen“, und man
kann diesen Vergleich noch durch die Erwägung näher begründen,
dass auch bei den reinen anorganischen Krystallen die vollkommene
stereometrische Grundform äusserst selten (oder nie) in der Natur
realisirt vorkommt, und daher stets mehr oder minder eine (durch Er-
gänzung vieler einzelner verglichener concreter Krystall-Individuen
erhaltene) ideale Abstraction darstellt. Die Unvollkommenheiten der
allermeisten realen Krystall-Individuen sind durch Anpassung ihrer
Form an die Umgebung bestimmt, welche während ihrer Entstehung
wirksam war. 1) In gleicher Weise, nur in viel höherem Grade, wirkt
1) Ganz besonders merkwürdig erscheinen durch die unendliche Mannich-
faltigkeit der individuellen Formen die complicirten Krystalle des Schnee’s, welche
zugleich desshalb von besonderem Interesse sind, weil hier die Anpassungs-Be-
dingungen verhältnissmässig einfache sind.
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/178>, abgerufen am 26.11.2024.
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