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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Organismen und Anorgane.
So z. B. zieht bei den höheren Thieren aus der gemeinsamen Ernäh-
rungsflüssigkeit, dem höchst zusammengesetzten Blute, jede einzelne
Zelle, jedes einzelne Organ, nur diejenigen bestimmten Bestandtheile
an sich, welche seines Gleichen sind, welche es zu seiner individuellen
Vergrösserung braucht, und verschmäht die übrigen. Aber selbst für
diesen complicirteren organischen Wachsthumsprocess giebt es Analoga
in der anorganischen Natur. Dahin gehört das bekannte Experiment,
welches schon von Reil 1796 in seiner klassischen Abhandlung "von
der Lebenskraft" benutzt wurde, um zu zeigen, dass die "Assimilation",
die Ernährung und das Wachsthum der Thiere nichts weiter seien,
als eine "thierische Krystallisation", d. h. "eine Anziehung thierischer
Materie nach Gesetzen einer chemischen Wahlverwandtschaft". Wenn
man nämlich in eine Auflösung von Salpeter und Glaubersalz einen
Salpeterkrystall hineinlegt, so krystallisirt nur der Salpeter heraus und
das Glaubersalz bleibt gelöst; wenn man dagegen umgekehrt in die-
selbe gemischte Auflösung einen Glaubersalzkrystall hineinlegt, so
krystallysirt nur das Glaubersalz heraus, und der Salpeter bleibt gelöst.1)

Diese wichtige Erscheinung, welche uns die Gleichheit der ein-
fachen Grundursachen im Wachsthum der Organismen und Anorgane
beweist, führt uns unmittelbar zu einem weiteren wichtigen Grundgesetz
des Wachsthums, das sich ebenfalls auf bestimmte Verhältnisse der
Massenanziehung gründet. Es folgt nämlich aus jenem instructiven
Versuche unmittelbar, dass ein bereits gebildeter fester Körper in seiner
Mutterlauge (d. h. in einer Flüssigkeit, welche die ihn zusammen-
setzenden eigenen Stoffe gelöst enthält) eine stärkere Anziehung auf
die umgebenden in der Flüssigkeit gelösten Moleküle ausübt, als diese
unter sich auszuüben vermögen. Ist daher einmal in einer solchen
Bildungsflüssigkeit ein fester Körper vorhanden, so wirkt dieser als
Anziehungsmittelpunkt, und vermag nun gleichartige Materie, welche
in der Flüssigkeit gelöst ist, aus dem flüssigen in den festen Aggregat-
zustand überzuführen, und zwar unter Umständen, unter denen dieser
Uebergang, das Festwerden, ohne Anwesenheit des festen Körpers nicht
erfolgt wäre.2) Auch dieses wichtige Gesetz wird sicher in ganz

1) Die quantitativen Mischungs-Verhältnisse der Lösung, welche zur An-
stellung dieses Experiments erforderlich sind, findet man von Reil näher ange-
geben in seinem Archiv für Physiologie, I. Vol. 1796, p. 77 Anm. 1.
2) Gewiss werden wir berechtigt sein, diese allgemeine wichtige Erscheinung
bei Beurtheilung der ersten Entstehung und des weiteren Wachsthums jedes in-
dividuellen Naturkörpers zu berücksichtigen, ganz besonderen Werth aber darauf
zu legen, wenn es sich darum handelt, die Analogie zwischen anorganischer Kry-
stallisation und organischer Autogonie nachzuweisen. Hierauf hat schon Schwann
in seinem berühmten Werk aufmerksam gemacht, indem er sagt (p. 252): "Bei
Entwickelung der plastischen Erscheinungen an den Zellen stellt sich das Ge-
setz heraus, dass zur ersten Bildung einer Zelle eine concentrirtere Lösung er-

Organismen und Anorgane.
So z. B. zieht bei den höheren Thieren aus der gemeinsamen Ernäh-
rungsflüssigkeit, dem höchst zusammengesetzten Blute, jede einzelne
Zelle, jedes einzelne Organ, nur diejenigen bestimmten Bestandtheile
an sich, welche seines Gleichen sind, welche es zu seiner individuellen
Vergrösserung braucht, und verschmäht die übrigen. Aber selbst für
diesen complicirteren organischen Wachsthumsprocess giebt es Analoga
in der anorganischen Natur. Dahin gehört das bekannte Experiment,
welches schon von Reil 1796 in seiner klassischen Abhandlung „von
der Lebenskraft“ benutzt wurde, um zu zeigen, dass die „Assimilation“,
die Ernährung und das Wachsthum der Thiere nichts weiter seien,
als eine „thierische Krystallisation“, d. h. „eine Anziehung thierischer
Materie nach Gesetzen einer chemischen Wahlverwandtschaft“. Wenn
man nämlich in eine Auflösung von Salpeter und Glaubersalz einen
Salpeterkrystall hineinlegt, so krystallisirt nur der Salpeter heraus und
das Glaubersalz bleibt gelöst; wenn man dagegen umgekehrt in die-
selbe gemischte Auflösung einen Glaubersalzkrystall hineinlegt, so
krystallysirt nur das Glaubersalz heraus, und der Salpeter bleibt gelöst.1)

Diese wichtige Erscheinung, welche uns die Gleichheit der ein-
fachen Grundursachen im Wachsthum der Organismen und Anorgane
beweist, führt uns unmittelbar zu einem weiteren wichtigen Grundgesetz
des Wachsthums, das sich ebenfalls auf bestimmte Verhältnisse der
Massenanziehung gründet. Es folgt nämlich aus jenem instructiven
Versuche unmittelbar, dass ein bereits gebildeter fester Körper in seiner
Mutterlauge (d. h. in einer Flüssigkeit, welche die ihn zusammen-
setzenden eigenen Stoffe gelöst enthält) eine stärkere Anziehung auf
die umgebenden in der Flüssigkeit gelösten Moleküle ausübt, als diese
unter sich auszuüben vermögen. Ist daher einmal in einer solchen
Bildungsflüssigkeit ein fester Körper vorhanden, so wirkt dieser als
Anziehungsmittelpunkt, und vermag nun gleichartige Materie, welche
in der Flüssigkeit gelöst ist, aus dem flüssigen in den festen Aggregat-
zustand überzuführen, und zwar unter Umständen, unter denen dieser
Uebergang, das Festwerden, ohne Anwesenheit des festen Körpers nicht
erfolgt wäre.2) Auch dieses wichtige Gesetz wird sicher in ganz

1) Die quantitativen Mischungs-Verhältnisse der Lösung, welche zur An-
stellung dieses Experiments erforderlich sind, findet man von Reil näher ange-
geben in seinem Archiv für Physiologie, I. Vol. 1796, p. 77 Anm. 1.
2) Gewiss werden wir berechtigt sein, diese allgemeine wichtige Erscheinung
bei Beurtheilung der ersten Entstehung und des weiteren Wachsthums jedes in-
dividuellen Naturkörpers zu berücksichtigen, ganz besonderen Werth aber darauf
zu legen, wenn es sich darum handelt, die Analogie zwischen anorganischer Kry-
stallisation und organischer Autogonie nachzuweisen. Hierauf hat schon Schwann
in seinem berühmten Werk aufmerksam gemacht, indem er sagt (p. 252): „Bei
Entwickelung der plastischen Erscheinungen an den Zellen stellt sich das Ge-
setz heraus, dass zur ersten Bildung einer Zelle eine concentrirtere Lösung er-
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[146/0185] Organismen und Anorgane. So z. B. zieht bei den höheren Thieren aus der gemeinsamen Ernäh- rungsflüssigkeit, dem höchst zusammengesetzten Blute, jede einzelne Zelle, jedes einzelne Organ, nur diejenigen bestimmten Bestandtheile an sich, welche seines Gleichen sind, welche es zu seiner individuellen Vergrösserung braucht, und verschmäht die übrigen. Aber selbst für diesen complicirteren organischen Wachsthumsprocess giebt es Analoga in der anorganischen Natur. Dahin gehört das bekannte Experiment, welches schon von Reil 1796 in seiner klassischen Abhandlung „von der Lebenskraft“ benutzt wurde, um zu zeigen, dass die „Assimilation“, die Ernährung und das Wachsthum der Thiere nichts weiter seien, als eine „thierische Krystallisation“, d. h. „eine Anziehung thierischer Materie nach Gesetzen einer chemischen Wahlverwandtschaft“. Wenn man nämlich in eine Auflösung von Salpeter und Glaubersalz einen Salpeterkrystall hineinlegt, so krystallisirt nur der Salpeter heraus und das Glaubersalz bleibt gelöst; wenn man dagegen umgekehrt in die- selbe gemischte Auflösung einen Glaubersalzkrystall hineinlegt, so krystallysirt nur das Glaubersalz heraus, und der Salpeter bleibt gelöst. 1) Diese wichtige Erscheinung, welche uns die Gleichheit der ein- fachen Grundursachen im Wachsthum der Organismen und Anorgane beweist, führt uns unmittelbar zu einem weiteren wichtigen Grundgesetz des Wachsthums, das sich ebenfalls auf bestimmte Verhältnisse der Massenanziehung gründet. Es folgt nämlich aus jenem instructiven Versuche unmittelbar, dass ein bereits gebildeter fester Körper in seiner Mutterlauge (d. h. in einer Flüssigkeit, welche die ihn zusammen- setzenden eigenen Stoffe gelöst enthält) eine stärkere Anziehung auf die umgebenden in der Flüssigkeit gelösten Moleküle ausübt, als diese unter sich auszuüben vermögen. Ist daher einmal in einer solchen Bildungsflüssigkeit ein fester Körper vorhanden, so wirkt dieser als Anziehungsmittelpunkt, und vermag nun gleichartige Materie, welche in der Flüssigkeit gelöst ist, aus dem flüssigen in den festen Aggregat- zustand überzuführen, und zwar unter Umständen, unter denen dieser Uebergang, das Festwerden, ohne Anwesenheit des festen Körpers nicht erfolgt wäre. 2) Auch dieses wichtige Gesetz wird sicher in ganz 1) Die quantitativen Mischungs-Verhältnisse der Lösung, welche zur An- stellung dieses Experiments erforderlich sind, findet man von Reil näher ange- geben in seinem Archiv für Physiologie, I. Vol. 1796, p. 77 Anm. 1. 2) Gewiss werden wir berechtigt sein, diese allgemeine wichtige Erscheinung bei Beurtheilung der ersten Entstehung und des weiteren Wachsthums jedes in- dividuellen Naturkörpers zu berücksichtigen, ganz besonderen Werth aber darauf zu legen, wenn es sich darum handelt, die Analogie zwischen anorganischer Kry- stallisation und organischer Autogonie nachzuweisen. Hierauf hat schon Schwann in seinem berühmten Werk aufmerksam gemacht, indem er sagt (p. 252): „Bei Entwickelung der plastischen Erscheinungen an den Zellen stellt sich das Ge- setz heraus, dass zur ersten Bildung einer Zelle eine concentrirtere Lösung er-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/185>, abgerufen am 17.05.2024.