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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Organismen und Anorgane.
werden, ist verbunden mit einer Zersetzung der vorhandenen Materie.
Die gebundenen Spannkräfte, welche eben bei dieser Zersetzung frei
und zu lebendigen Kräften werden, veranlassen durch ihre Be-
wegungen die nothwendigen Lebens-Erscheinungen. Der dabei be-
ständig wirksamen Gefahr des Unterganges, des Todes, entziehen sich
die organischen Individuen durch die Ernährung, welche jener Zer-
setzung entgegenwirkt. Sie müssen daher, um ihre Existenz zu fristen,
um zu "leben", sich in beständigem Stoffwechsel befinden, sich be-
ständig zersetzen und ernähren, und dies ist nur mittelst der Imbibition
möglich. Wenn diese Wechselwirkung zwischen der Zersetzung und
der Ernährung der festflüssigen Materie aufhört, tritt der Tod ein.
Sämmtliche anorganische Individuen dagegen können sich niemals
zersetzen, ohne dadurch ihre Existenz als solche aufzugeben. Weil
sie nicht imbibitionsfähig sind, können sie sich nicht ernähren, und
wenn sie sich zersetzen, so ist dies ihr Tod. So wenig aber die Kry-
stalle sich zersetzen können, ohne ihre individuelle Form und damit
ihren individuellen Charakter aufzugeben, so wenig bedürfen sie der
Zersetzung, um sich zu erhalten. Und hierin liegt gleichfalls ein we-
sentlicher Unterschied zwischen den organischen und anorganischen
Individuen, der sich ebenfalls auf ihren verschiedenen Aggregatzustand
zurückführen lässt. Denn der feste Aggregatzustand der Krystalle,
welcher die inneren Bewegungs-Erscheinungen ausschliesst, die für das
Leben des festflüssigen Organismus unentbehrlich sind, verleiht den-
selben zugleich die Fähigkeit der Selbsterhaltung, ohne dass Stoff-
wechsel für die Conservation erforderlich ist.

Gleichwie nun die Ernährung und der Stoffwechsel den Organismen
vermöge ihres festflüssigen Aggregatzustandes allein eigenthümlich und
nothwendig sind, und den Anorganen völlig fehlen, so können natürlich
auch bei den letzteren alle die complicirteren Molekular-Bewegungen der
organischen Materie nicht zu Stande kommen, welche wir als Empfindung,
willkührliche Bewegung, als Sinnesthätigkeit, Fortpflanzung u. s. w. bezeich-
nen. Da dieselben die Ernährung als nothwendige Grundlage voraussetzen,
so brauchen wir hier den nothwendigen Mangel derselben in den anorgani-
schen Individuen nicht weiter zu beweisen, um so weniger, als viele dieser
Functionen, und vorzüglich die höchsten und complicirtesten (wie die soge-
nannten Seelenthätigkeiten), nur einer gewissen Anzahl von Organismen,
nämlich den höheren Thieren, eigenthümlich sind. Nur eine einzige Func-
tion müssen wir hier noch hervorheben, welche allen Anorganen ohne Aus-
nahme abgeht, und das ist die mit der Ernährung innig verbundene Func-
tion der Fortpflanzung.

Die Fortpflanzung der organischen Individuen ist eine ebenso
allgemeine und fundamentale Function der Organismen, als die Ernährung
und das Wachsthum, mit denen sie unmittelbar zusammenhängt. Ohne auf
die complicirteren Formen der Fortpflanzung hier einzugehen, werfen wir

Organismen und Anorgane.
werden, ist verbunden mit einer Zersetzung der vorhandenen Materie.
Die gebundenen Spannkräfte, welche eben bei dieser Zersetzung frei
und zu lebendigen Kräften werden, veranlassen durch ihre Be-
wegungen die nothwendigen Lebens-Erscheinungen. Der dabei be-
ständig wirksamen Gefahr des Unterganges, des Todes, entziehen sich
die organischen Individuen durch die Ernährung, welche jener Zer-
setzung entgegenwirkt. Sie müssen daher, um ihre Existenz zu fristen,
um zu „leben“, sich in beständigem Stoffwechsel befinden, sich be-
ständig zersetzen und ernähren, und dies ist nur mittelst der Imbibition
möglich. Wenn diese Wechselwirkung zwischen der Zersetzung und
der Ernährung der festflüssigen Materie aufhört, tritt der Tod ein.
Sämmtliche anorganische Individuen dagegen können sich niemals
zersetzen, ohne dadurch ihre Existenz als solche aufzugeben. Weil
sie nicht imbibitionsfähig sind, können sie sich nicht ernähren, und
wenn sie sich zersetzen, so ist dies ihr Tod. So wenig aber die Kry-
stalle sich zersetzen können, ohne ihre individuelle Form und damit
ihren individuellen Charakter aufzugeben, so wenig bedürfen sie der
Zersetzung, um sich zu erhalten. Und hierin liegt gleichfalls ein we-
sentlicher Unterschied zwischen den organischen und anorganischen
Individuen, der sich ebenfalls auf ihren verschiedenen Aggregatzustand
zurückführen lässt. Denn der feste Aggregatzustand der Krystalle,
welcher die inneren Bewegungs-Erscheinungen ausschliesst, die für das
Leben des festflüssigen Organismus unentbehrlich sind, verleiht den-
selben zugleich die Fähigkeit der Selbsterhaltung, ohne dass Stoff-
wechsel für die Conservation erforderlich ist.

Gleichwie nun die Ernährung und der Stoffwechsel den Organismen
vermöge ihres festflüssigen Aggregatzustandes allein eigenthümlich und
nothwendig sind, und den Anorganen völlig fehlen, so können natürlich
auch bei den letzteren alle die complicirteren Molekular-Bewegungen der
organischen Materie nicht zu Stande kommen, welche wir als Empfindung,
willkührliche Bewegung, als Sinnesthätigkeit, Fortpflanzung u. s. w. bezeich-
nen. Da dieselben die Ernährung als nothwendige Grundlage voraussetzen,
so brauchen wir hier den nothwendigen Mangel derselben in den anorgani-
schen Individuen nicht weiter zu beweisen, um so weniger, als viele dieser
Functionen, und vorzüglich die höchsten und complicirtesten (wie die soge-
nannten Seelenthätigkeiten), nur einer gewissen Anzahl von Organismen,
nämlich den höheren Thieren, eigenthümlich sind. Nur eine einzige Func-
tion müssen wir hier noch hervorheben, welche allen Anorganen ohne Aus-
nahme abgeht, und das ist die mit der Ernährung innig verbundene Func-
tion der Fortpflanzung.

Die Fortpflanzung der organischen Individuen ist eine ebenso
allgemeine und fundamentale Function der Organismen, als die Ernährung
und das Wachsthum, mit denen sie unmittelbar zusammenhängt. Ohne auf
die complicirteren Formen der Fortpflanzung hier einzugehen, werfen wir

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[150/0189] Organismen und Anorgane. werden, ist verbunden mit einer Zersetzung der vorhandenen Materie. Die gebundenen Spannkräfte, welche eben bei dieser Zersetzung frei und zu lebendigen Kräften werden, veranlassen durch ihre Be- wegungen die nothwendigen Lebens-Erscheinungen. Der dabei be- ständig wirksamen Gefahr des Unterganges, des Todes, entziehen sich die organischen Individuen durch die Ernährung, welche jener Zer- setzung entgegenwirkt. Sie müssen daher, um ihre Existenz zu fristen, um zu „leben“, sich in beständigem Stoffwechsel befinden, sich be- ständig zersetzen und ernähren, und dies ist nur mittelst der Imbibition möglich. Wenn diese Wechselwirkung zwischen der Zersetzung und der Ernährung der festflüssigen Materie aufhört, tritt der Tod ein. Sämmtliche anorganische Individuen dagegen können sich niemals zersetzen, ohne dadurch ihre Existenz als solche aufzugeben. Weil sie nicht imbibitionsfähig sind, können sie sich nicht ernähren, und wenn sie sich zersetzen, so ist dies ihr Tod. So wenig aber die Kry- stalle sich zersetzen können, ohne ihre individuelle Form und damit ihren individuellen Charakter aufzugeben, so wenig bedürfen sie der Zersetzung, um sich zu erhalten. Und hierin liegt gleichfalls ein we- sentlicher Unterschied zwischen den organischen und anorganischen Individuen, der sich ebenfalls auf ihren verschiedenen Aggregatzustand zurückführen lässt. Denn der feste Aggregatzustand der Krystalle, welcher die inneren Bewegungs-Erscheinungen ausschliesst, die für das Leben des festflüssigen Organismus unentbehrlich sind, verleiht den- selben zugleich die Fähigkeit der Selbsterhaltung, ohne dass Stoff- wechsel für die Conservation erforderlich ist. Gleichwie nun die Ernährung und der Stoffwechsel den Organismen vermöge ihres festflüssigen Aggregatzustandes allein eigenthümlich und nothwendig sind, und den Anorganen völlig fehlen, so können natürlich auch bei den letzteren alle die complicirteren Molekular-Bewegungen der organischen Materie nicht zu Stande kommen, welche wir als Empfindung, willkührliche Bewegung, als Sinnesthätigkeit, Fortpflanzung u. s. w. bezeich- nen. Da dieselben die Ernährung als nothwendige Grundlage voraussetzen, so brauchen wir hier den nothwendigen Mangel derselben in den anorgani- schen Individuen nicht weiter zu beweisen, um so weniger, als viele dieser Functionen, und vorzüglich die höchsten und complicirtesten (wie die soge- nannten Seelenthätigkeiten), nur einer gewissen Anzahl von Organismen, nämlich den höheren Thieren, eigenthümlich sind. Nur eine einzige Func- tion müssen wir hier noch hervorheben, welche allen Anorganen ohne Aus- nahme abgeht, und das ist die mit der Ernährung innig verbundene Func- tion der Fortpflanzung. Die Fortpflanzung der organischen Individuen ist eine ebenso allgemeine und fundamentale Function der Organismen, als die Ernährung und das Wachsthum, mit denen sie unmittelbar zusammenhängt. Ohne auf die complicirteren Formen der Fortpflanzung hier einzugehen, werfen wir

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/189>, abgerufen am 27.11.2024.