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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Bedeutung der Systemgruppen.
im Laufe von Milliarden von Jahren so äusserst divergenten Nach-
kommen den Ursprung gegeben haben.

Wenn diese Theorie wahr ist -- und wir können nicht daran
zweifeln -- so wird nun zunächst mit Bezug auf die genetische Diffe-
renz der Thiere und Pflanzen die wichtige Frage entstehen, ob alle
Thiere und alle Pflanzen der Erde sich aus einem einzigen oder aus
mehreren autogonen Moneren entwickelt haben, und wenn Letzteres
der Fall ist, aus wie Vielen? Leider ist nun diese wichtige Frage
nur mit einem sehr geringen Grade von Sicherheit hypothetisch zu
beantworten. Auch die sorgfältigste Erwägung und Vergleichung aller
bekannten Thatsachen liefert uns nur äusserst unvollständige Anhalts-
punkte, und es ist überdies nicht die mindeste Hoffnung dazu vorhan-
den, dass auch die wichtigsten palaeontologischen Entdeckungen, die
uns noch vorbehalten sind, das tiefe Dunkel, welches über jener
ältesten Periode des Moneren-Lebens auf der Erde schwebt, lichten
und uns über dessen primitive Entwickelung irgend etwas Sicheres
verkünden werden. Denn es liegt in der äusserst einfachen Natur
jener ersten autogonen Moneren, die wahrscheinlich gleich den noch
jetzt lebenden Protamoeben mikroskopisch kleine und ganz weiche,
höchst zerstörbare Plasmaklumpen gewesen sind, dass weder von
ihnen selbst, noch von ihren nächsten Nachkommen irgend welche
erkennbaren Spuren oder Reste in dem sich ablagernden Schlamme
des Urmeeres erhalten bleiben konnten. Erst nach Ablauf langer
Zeiträume können sich aus ihnen allmählig vollkommenere und grössere
Organismen mit härteren Theilen entwickelt haben, die im Stande
waren, kenntliche Spuren im Sedimentgestein zu hinterlassen.

Die einzigen positiven Erfahrungen, die uns in dieser Beziehung
zu Hülfe kommen, sind die allgemeinen Resultate der embryologischen
Entwickelung. Wir wissen, dass jeder Organismus während seiner
Ontogenie eine Stufenfolge von niederen zu höheren Formen durch-
läuft, welche der Phylogenie seines Stammes im Ganzen parallel läuft,
und wir können also von den ersten Stadien der embryologischen
auf die ersten Stadien der palaeontologischen Entwickelung durch
Deduction zurückschliessen. Nun zeigt sich allerdings bei der Onto-
genie der allermeisten Organismen als die erste Formstufe der indi-
viduellen Entwickelung eine einzige einfache Plastide, gewöhnlich
kernhaltig (als Zelle), seltener kernlos (als Cytode).1) Wir wissen

1) Auch als die ersten Stammformen derjenigen (der meisten) Organismen,
deren erste Embryonalstufe eine kernhaltige Plastide (Zelle) ist, können wir
kernlose Plastiden (Cytoden) ansehen, da aller Wahrscheinlichkeit nach durch
Autogonie keine Zellen, sondern bloss structurlose Moneren, also Cytoden ent-
stehen können, aus denen erst später Zellen sich differenziren. Die Erklärung
dieser "Abkürzung der Entwickelung" siehe im fünften Buche.

II. Bedeutung der Systemgruppen.
im Laufe von Milliarden von Jahren so äusserst divergenten Nach-
kommen den Ursprung gegeben haben.

Wenn diese Theorie wahr ist — und wir können nicht daran
zweifeln — so wird nun zunächst mit Bezug auf die genetische Diffe-
renz der Thiere und Pflanzen die wichtige Frage entstehen, ob alle
Thiere und alle Pflanzen der Erde sich aus einem einzigen oder aus
mehreren autogonen Moneren entwickelt haben, und wenn Letzteres
der Fall ist, aus wie Vielen? Leider ist nun diese wichtige Frage
nur mit einem sehr geringen Grade von Sicherheit hypothetisch zu
beantworten. Auch die sorgfältigste Erwägung und Vergleichung aller
bekannten Thatsachen liefert uns nur äusserst unvollständige Anhalts-
punkte, und es ist überdies nicht die mindeste Hoffnung dazu vorhan-
den, dass auch die wichtigsten palaeontologischen Entdeckungen, die
uns noch vorbehalten sind, das tiefe Dunkel, welches über jener
ältesten Periode des Moneren-Lebens auf der Erde schwebt, lichten
und uns über dessen primitive Entwickelung irgend etwas Sicheres
verkünden werden. Denn es liegt in der äusserst einfachen Natur
jener ersten autogonen Moneren, die wahrscheinlich gleich den noch
jetzt lebenden Protamoeben mikroskopisch kleine und ganz weiche,
höchst zerstörbare Plasmaklumpen gewesen sind, dass weder von
ihnen selbst, noch von ihren nächsten Nachkommen irgend welche
erkennbaren Spuren oder Reste in dem sich ablagernden Schlamme
des Urmeeres erhalten bleiben konnten. Erst nach Ablauf langer
Zeiträume können sich aus ihnen allmählig vollkommenere und grössere
Organismen mit härteren Theilen entwickelt haben, die im Stande
waren, kenntliche Spuren im Sedimentgestein zu hinterlassen.

Die einzigen positiven Erfahrungen, die uns in dieser Beziehung
zu Hülfe kommen, sind die allgemeinen Resultate der embryologischen
Entwickelung. Wir wissen, dass jeder Organismus während seiner
Ontogenie eine Stufenfolge von niederen zu höheren Formen durch-
läuft, welche der Phylogenie seines Stammes im Ganzen parallel läuft,
und wir können also von den ersten Stadien der embryologischen
auf die ersten Stadien der palaeontologischen Entwickelung durch
Deduction zurückschliessen. Nun zeigt sich allerdings bei der Onto-
genie der allermeisten Organismen als die erste Formstufe der indi-
viduellen Entwickelung eine einzige einfache Plastide, gewöhnlich
kernhaltig (als Zelle), seltener kernlos (als Cytode).1) Wir wissen

1) Auch als die ersten Stammformen derjenigen (der meisten) Organismen,
deren erste Embryonalstufe eine kernhaltige Plastide (Zelle) ist, können wir
kernlose Plastiden (Cytoden) ansehen, da aller Wahrscheinlichkeit nach durch
Autogonie keine Zellen, sondern bloss structurlose Moneren, also Cytoden ent-
stehen können, aus denen erst später Zellen sich differenziren. Die Erklärung
dieser „Abkürzung der Entwickelung“ siehe im fünften Buche.
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[197/0236] II. Bedeutung der Systemgruppen. im Laufe von Milliarden von Jahren so äusserst divergenten Nach- kommen den Ursprung gegeben haben. Wenn diese Theorie wahr ist — und wir können nicht daran zweifeln — so wird nun zunächst mit Bezug auf die genetische Diffe- renz der Thiere und Pflanzen die wichtige Frage entstehen, ob alle Thiere und alle Pflanzen der Erde sich aus einem einzigen oder aus mehreren autogonen Moneren entwickelt haben, und wenn Letzteres der Fall ist, aus wie Vielen? Leider ist nun diese wichtige Frage nur mit einem sehr geringen Grade von Sicherheit hypothetisch zu beantworten. Auch die sorgfältigste Erwägung und Vergleichung aller bekannten Thatsachen liefert uns nur äusserst unvollständige Anhalts- punkte, und es ist überdies nicht die mindeste Hoffnung dazu vorhan- den, dass auch die wichtigsten palaeontologischen Entdeckungen, die uns noch vorbehalten sind, das tiefe Dunkel, welches über jener ältesten Periode des Moneren-Lebens auf der Erde schwebt, lichten und uns über dessen primitive Entwickelung irgend etwas Sicheres verkünden werden. Denn es liegt in der äusserst einfachen Natur jener ersten autogonen Moneren, die wahrscheinlich gleich den noch jetzt lebenden Protamoeben mikroskopisch kleine und ganz weiche, höchst zerstörbare Plasmaklumpen gewesen sind, dass weder von ihnen selbst, noch von ihren nächsten Nachkommen irgend welche erkennbaren Spuren oder Reste in dem sich ablagernden Schlamme des Urmeeres erhalten bleiben konnten. Erst nach Ablauf langer Zeiträume können sich aus ihnen allmählig vollkommenere und grössere Organismen mit härteren Theilen entwickelt haben, die im Stande waren, kenntliche Spuren im Sedimentgestein zu hinterlassen. Die einzigen positiven Erfahrungen, die uns in dieser Beziehung zu Hülfe kommen, sind die allgemeinen Resultate der embryologischen Entwickelung. Wir wissen, dass jeder Organismus während seiner Ontogenie eine Stufenfolge von niederen zu höheren Formen durch- läuft, welche der Phylogenie seines Stammes im Ganzen parallel läuft, und wir können also von den ersten Stadien der embryologischen auf die ersten Stadien der palaeontologischen Entwickelung durch Deduction zurückschliessen. Nun zeigt sich allerdings bei der Onto- genie der allermeisten Organismen als die erste Formstufe der indi- viduellen Entwickelung eine einzige einfache Plastide, gewöhnlich kernhaltig (als Zelle), seltener kernlos (als Cytode). 1) Wir wissen 1) Auch als die ersten Stammformen derjenigen (der meisten) Organismen, deren erste Embryonalstufe eine kernhaltige Plastide (Zelle) ist, können wir kernlose Plastiden (Cytoden) ansehen, da aller Wahrscheinlichkeit nach durch Autogonie keine Zellen, sondern bloss structurlose Moneren, also Cytoden ent- stehen können, aus denen erst später Zellen sich differenziren. Die Erklärung dieser „Abkürzung der Entwickelung“ siehe im fünften Buche.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/236>, abgerufen am 18.06.2024.