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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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scheidende Merkmale zu characterisiren. So z. B. ist die Diagnose
des Wirbelthier-Stammes, des Coelenteraten-Stammes etc. mit voller
Schärfe und Sicherheit zu geben. Allein eine solche Diagnose ist nur
möglich dadurch, dass man ausschliesslich die vollendeten Formen
zusammenstellt und vergleicht, die werdenden und nicht entwickelten
dagegen ausschliesst. Dies gilt ganz ebenso von der Definition der
Stämme, wie von derjenigen der Gruppen innerhalb der Stämme. Jeder
wird uns dies zugeben, wenn er an die embryonale Entwickelung
denkt. Es ist z. B. ganz unmöglich, die Embryonen von Vögeln und
Reptilien bis zu einer gewissen Zeit ihrer Entwickelung zu unterschei-
den, und doch setzt die Definition der vollendeten Formen beide Klas-
sen scharf und vollständig von einander ab. Ebenso ist es ganz unmög-
lich, die Eier und die ersten Entwickelungszustände (z. B. die maul-
beerförmigen Zellenhaufen, die aus der totalen Eifurchung hervorgehen)
von Thieren verschiedener Klassen (z. B. Cephalophoren und Lamelli-
branchien) zu unterscheiden; diese Unterscheidung ist selbst bei Ange-
hörigen ganz verschiedener Stämme (z. B. Echinodermen und Mollus-
ken) oft unmöglich. In noch viel höherem Maasse macht sich aber
dieser Umstand geltend, wenn wir an die palaeontologische Entwicke-
lung und an die continuirlich zusammenhängenden Stufenreihen von
Formen denken, die aus einer und derselben gemeinsamen Wurzelform
nach verschiedenen Richtungen hin sich divergent entwickeln. Da hier
überall eine unendliche Menge verbindender Zwischenglieder ganz
allmählig von einer Form in die andere hinüberleitet und da auch die
höchst entwickelten und scharf ausgebildeten Endglieder der Ent-
wickelungsreihen durch eine ununterbrochene Stufenfolge mit den nie-
dersten und einfachsten Moneren, den gemeinsamen autogonen Stamm-
formen, continuirlich zusammenhängen, so ist es geradezu unmöglich,
sowohl die einzelnen Glieder (Kategorieen) eines Stammes durch eine
scharfe Definition zu unterscheiden, als auch den ganzen Stamm durch
eine auf alle seine Glieder passende und auf kein Glied eines ande-
ren Stammes passende Diagnose zu characterisiren. Wenn dies den-
noch häufig möglich zu sein scheint, wenn wir z. B. die drei Klassen
der Säuger, Vögel und Reptilien durch scharfe Diagnosen trennen,
wenn wir den Stamm der Wirbelthiere scharf characterisiren, so ist
dies blos dadurch möglich, dass wir ausschliesslich die höchst ent-
wickelten und ausgebildeten Formen vergleichen und die zahllosen
embryologischen und palaeontologischen Entwickelungszustände gänz-
lich vernachlässigen. So z. B. können wir die drei Ordnungen der
Hufthiere (Pachydermen, Pferde und Wiederkäuer) in der Jetztwelt
sehr scharf von einander trennen; es ist dies aber ganz unmöglich,
wenn wir ihre früheren Embryonal-Zustände, oder auch wenn wir nur
ihre ausgestorbenen Blutsverwandten der Tertiärzeit mit in den Kreis

V. Characteristik der Stämme und Reiche.
scheidende Merkmale zu characterisiren. So z. B. ist die Diagnose
des Wirbelthier-Stammes, des Coelenteraten-Stammes etc. mit voller
Schärfe und Sicherheit zu geben. Allein eine solche Diagnose ist nur
möglich dadurch, dass man ausschliesslich die vollendeten Formen
zusammenstellt und vergleicht, die werdenden und nicht entwickelten
dagegen ausschliesst. Dies gilt ganz ebenso von der Definition der
Stämme, wie von derjenigen der Gruppen innerhalb der Stämme. Jeder
wird uns dies zugeben, wenn er an die embryonale Entwickelung
denkt. Es ist z. B. ganz unmöglich, die Embryonen von Vögeln und
Reptilien bis zu einer gewissen Zeit ihrer Entwickelung zu unterschei-
den, und doch setzt die Definition der vollendeten Formen beide Klas-
sen scharf und vollständig von einander ab. Ebenso ist es ganz unmög-
lich, die Eier und die ersten Entwickelungszustände (z. B. die maul-
beerförmigen Zellenhaufen, die aus der totalen Eifurchung hervorgehen)
von Thieren verschiedener Klassen (z. B. Cephalophoren und Lamelli-
branchien) zu unterscheiden; diese Unterscheidung ist selbst bei Ange-
hörigen ganz verschiedener Stämme (z. B. Echinodermen und Mollus-
ken) oft unmöglich. In noch viel höherem Maasse macht sich aber
dieser Umstand geltend, wenn wir an die palaeontologische Entwicke-
lung und an die continuirlich zusammenhängenden Stufenreihen von
Formen denken, die aus einer und derselben gemeinsamen Wurzelform
nach verschiedenen Richtungen hin sich divergent entwickeln. Da hier
überall eine unendliche Menge verbindender Zwischenglieder ganz
allmählig von einer Form in die andere hinüberleitet und da auch die
höchst entwickelten und scharf ausgebildeten Endglieder der Ent-
wickelungsreihen durch eine ununterbrochene Stufenfolge mit den nie-
dersten und einfachsten Moneren, den gemeinsamen autogonen Stamm-
formen, continuirlich zusammenhängen, so ist es geradezu unmöglich,
sowohl die einzelnen Glieder (Kategorieen) eines Stammes durch eine
scharfe Definition zu unterscheiden, als auch den ganzen Stamm durch
eine auf alle seine Glieder passende und auf kein Glied eines ande-
ren Stammes passende Diagnose zu characterisiren. Wenn dies den-
noch häufig möglich zu sein scheint, wenn wir z. B. die drei Klassen
der Säuger, Vögel und Reptilien durch scharfe Diagnosen trennen,
wenn wir den Stamm der Wirbelthiere scharf characterisiren, so ist
dies blos dadurch möglich, dass wir ausschliesslich die höchst ent-
wickelten und ausgebildeten Formen vergleichen und die zahllosen
embryologischen und palaeontologischen Entwickelungszustände gänz-
lich vernachlässigen. So z. B. können wir die drei Ordnungen der
Hufthiere (Pachydermen, Pferde und Wiederkäuer) in der Jetztwelt
sehr scharf von einander trennen; es ist dies aber ganz unmöglich,
wenn wir ihre früheren Embryonal-Zustände, oder auch wenn wir nur
ihre ausgestorbenen Blutsverwandten der Tertiärzeit mit in den Kreis

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[207/0246] V. Characteristik der Stämme und Reiche. scheidende Merkmale zu characterisiren. So z. B. ist die Diagnose des Wirbelthier-Stammes, des Coelenteraten-Stammes etc. mit voller Schärfe und Sicherheit zu geben. Allein eine solche Diagnose ist nur möglich dadurch, dass man ausschliesslich die vollendeten Formen zusammenstellt und vergleicht, die werdenden und nicht entwickelten dagegen ausschliesst. Dies gilt ganz ebenso von der Definition der Stämme, wie von derjenigen der Gruppen innerhalb der Stämme. Jeder wird uns dies zugeben, wenn er an die embryonale Entwickelung denkt. Es ist z. B. ganz unmöglich, die Embryonen von Vögeln und Reptilien bis zu einer gewissen Zeit ihrer Entwickelung zu unterschei- den, und doch setzt die Definition der vollendeten Formen beide Klas- sen scharf und vollständig von einander ab. Ebenso ist es ganz unmög- lich, die Eier und die ersten Entwickelungszustände (z. B. die maul- beerförmigen Zellenhaufen, die aus der totalen Eifurchung hervorgehen) von Thieren verschiedener Klassen (z. B. Cephalophoren und Lamelli- branchien) zu unterscheiden; diese Unterscheidung ist selbst bei Ange- hörigen ganz verschiedener Stämme (z. B. Echinodermen und Mollus- ken) oft unmöglich. In noch viel höherem Maasse macht sich aber dieser Umstand geltend, wenn wir an die palaeontologische Entwicke- lung und an die continuirlich zusammenhängenden Stufenreihen von Formen denken, die aus einer und derselben gemeinsamen Wurzelform nach verschiedenen Richtungen hin sich divergent entwickeln. Da hier überall eine unendliche Menge verbindender Zwischenglieder ganz allmählig von einer Form in die andere hinüberleitet und da auch die höchst entwickelten und scharf ausgebildeten Endglieder der Ent- wickelungsreihen durch eine ununterbrochene Stufenfolge mit den nie- dersten und einfachsten Moneren, den gemeinsamen autogonen Stamm- formen, continuirlich zusammenhängen, so ist es geradezu unmöglich, sowohl die einzelnen Glieder (Kategorieen) eines Stammes durch eine scharfe Definition zu unterscheiden, als auch den ganzen Stamm durch eine auf alle seine Glieder passende und auf kein Glied eines ande- ren Stammes passende Diagnose zu characterisiren. Wenn dies den- noch häufig möglich zu sein scheint, wenn wir z. B. die drei Klassen der Säuger, Vögel und Reptilien durch scharfe Diagnosen trennen, wenn wir den Stamm der Wirbelthiere scharf characterisiren, so ist dies blos dadurch möglich, dass wir ausschliesslich die höchst ent- wickelten und ausgebildeten Formen vergleichen und die zahllosen embryologischen und palaeontologischen Entwickelungszustände gänz- lich vernachlässigen. So z. B. können wir die drei Ordnungen der Hufthiere (Pachydermen, Pferde und Wiederkäuer) in der Jetztwelt sehr scharf von einander trennen; es ist dies aber ganz unmöglich, wenn wir ihre früheren Embryonal-Zustände, oder auch wenn wir nur ihre ausgestorbenen Blutsverwandten der Tertiärzeit mit in den Kreis

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/246>, abgerufen am 17.05.2024.