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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Thiere und Pflanzen.
zweifelhaft, ob bei irgend einer dieser Pflanzen die Reflexbewegungen
sich deutlich in die getrennten Functionen des Empfindens und Wol-
lens differenziren, welche in einem Centralorgane als Vorstellungen
ausgelöst werden müssten. Wenn diese Differenzirung noch fehlt, so
fehlt sie sicher auch vielen echten Thieren (vielen Würmern, Coelen-
teraten, besonders Anthozoen und Anderen), welche sich auf ganz
ähnliche Bewegungen, wie die Mimosen etc. beschränken. Indessen
treten doch diese Leistungen mechanischer Arbeit, welche den Reflex-
bewegungen der Thiere sich unmittelbar anzuschliessen scheinen, und
wie diese mit einem Verbrauche von Spannkraft verbunden sind, nur
bei wenigen (meist höheren) Pflanzen auf, und im Ganzen bleibt die
besondere Lebensthätigkeit der Pflanzen darauf beschränkt, dass sie
(durch Reduction und Wärme-Bindung) Massen von lebendigen Kräften
in Spannkräfte überführen.

IX. Vergleichung der drei Reiche.

Eine scharfe und vollkommen unterscheidende Characteristik der
Organismen-Reiche ist, wie die vorhergehenden Abschnitte zeigen, nur
dann möglich, wenn man ausschliesslich die entwickelten und voll-
kommenen Formen berücksichtigt und von den niederen und einfachen
Formen absieht. So wenig wir im Stande sind, eine vollständig
scharfe und erschöpfende Diagnose eines Phylon zu geben, welche
alle embryologischen und palaeontologischen Entwickelungszustände
desselben umfasst, so wenig ist dies von einem der drei organischen
Reiche möglich, deren jedes aus mehreren Phylen zu bestehen scheint.
Nur dann können wir eine solche differentielle Diagnose aufstellen,
wenn wir die am meisten ausgebildeten und characteristischen Haupt-
formen vorwiegend berücksichtigen und aus den typischen Characteren
der Mehrzahl der Formen ein allgemeines Bild des Ganzen in grossen
Zügen und skizzenhaften Umrissen entwerfen.

Wenn wir nun ausdrücklich unter dieser Voraussetzung und unter
dem besonderen Hinweis darauf, dass jedes Reich nur eine künstliche
Collectivgruppe von mehreren selbstständigen, aber analog entwickelten
Phylen ist, eine allgemeine Characteristik der drei Reiche vorstehend
versucht haben, so glauben wir, dass sich daraus die Vorzüge unserer
Dreitheilung vor der bisher gültigen Zweitheilung ergeben haben wer-
den. Die Dreitheilung hat besonders den grossen Vortheil, dass jedes
der beiden nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin entwickelten
grossen Reiche sich weit schärfer, sicherer und vollständiger charac-
terisiren lässt, als es bei der Zweitheilung möglich ist. Denn wir
haben in den unzweifelhaften Pflanzen (Cormophyten, Nematophyten,
Characeen, Algen) eine Summe von hervortretenden Eigenschaften verbun-

Thiere und Pflanzen.
zweifelhaft, ob bei irgend einer dieser Pflanzen die Reflexbewegungen
sich deutlich in die getrennten Functionen des Empfindens und Wol-
lens differenziren, welche in einem Centralorgane als Vorstellungen
ausgelöst werden müssten. Wenn diese Differenzirung noch fehlt, so
fehlt sie sicher auch vielen echten Thieren (vielen Würmern, Coelen-
teraten, besonders Anthozoen und Anderen), welche sich auf ganz
ähnliche Bewegungen, wie die Mimosen etc. beschränken. Indessen
treten doch diese Leistungen mechanischer Arbeit, welche den Reflex-
bewegungen der Thiere sich unmittelbar anzuschliessen scheinen, und
wie diese mit einem Verbrauche von Spannkraft verbunden sind, nur
bei wenigen (meist höheren) Pflanzen auf, und im Ganzen bleibt die
besondere Lebensthätigkeit der Pflanzen darauf beschränkt, dass sie
(durch Reduction und Wärme-Bindung) Massen von lebendigen Kräften
in Spannkräfte überführen.

IX. Vergleichung der drei Reiche.

Eine scharfe und vollkommen unterscheidende Characteristik der
Organismen-Reiche ist, wie die vorhergehenden Abschnitte zeigen, nur
dann möglich, wenn man ausschliesslich die entwickelten und voll-
kommenen Formen berücksichtigt und von den niederen und einfachen
Formen absieht. So wenig wir im Stande sind, eine vollständig
scharfe und erschöpfende Diagnose eines Phylon zu geben, welche
alle embryologischen und palaeontologischen Entwickelungszustände
desselben umfasst, so wenig ist dies von einem der drei organischen
Reiche möglich, deren jedes aus mehreren Phylen zu bestehen scheint.
Nur dann können wir eine solche differentielle Diagnose aufstellen,
wenn wir die am meisten ausgebildeten und characteristischen Haupt-
formen vorwiegend berücksichtigen und aus den typischen Characteren
der Mehrzahl der Formen ein allgemeines Bild des Ganzen in grossen
Zügen und skizzenhaften Umrissen entwerfen.

Wenn wir nun ausdrücklich unter dieser Voraussetzung und unter
dem besonderen Hinweis darauf, dass jedes Reich nur eine künstliche
Collectivgruppe von mehreren selbstständigen, aber analog entwickelten
Phylen ist, eine allgemeine Characteristik der drei Reiche vorstehend
versucht haben, so glauben wir, dass sich daraus die Vorzüge unserer
Dreitheilung vor der bisher gültigen Zweitheilung ergeben haben wer-
den. Die Dreitheilung hat besonders den grossen Vortheil, dass jedes
der beiden nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin entwickelten
grossen Reiche sich weit schärfer, sicherer und vollständiger charac-
terisiren lässt, als es bei der Zweitheilung möglich ist. Denn wir
haben in den unzweifelhaften Pflanzen (Cormophyten, Nematophyten,
Characeen, Algen) eine Summe von hervortretenden Eigenschaften verbun-

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[226/0265] Thiere und Pflanzen. zweifelhaft, ob bei irgend einer dieser Pflanzen die Reflexbewegungen sich deutlich in die getrennten Functionen des Empfindens und Wol- lens differenziren, welche in einem Centralorgane als Vorstellungen ausgelöst werden müssten. Wenn diese Differenzirung noch fehlt, so fehlt sie sicher auch vielen echten Thieren (vielen Würmern, Coelen- teraten, besonders Anthozoen und Anderen), welche sich auf ganz ähnliche Bewegungen, wie die Mimosen etc. beschränken. Indessen treten doch diese Leistungen mechanischer Arbeit, welche den Reflex- bewegungen der Thiere sich unmittelbar anzuschliessen scheinen, und wie diese mit einem Verbrauche von Spannkraft verbunden sind, nur bei wenigen (meist höheren) Pflanzen auf, und im Ganzen bleibt die besondere Lebensthätigkeit der Pflanzen darauf beschränkt, dass sie (durch Reduction und Wärme-Bindung) Massen von lebendigen Kräften in Spannkräfte überführen. IX. Vergleichung der drei Reiche. Eine scharfe und vollkommen unterscheidende Characteristik der Organismen-Reiche ist, wie die vorhergehenden Abschnitte zeigen, nur dann möglich, wenn man ausschliesslich die entwickelten und voll- kommenen Formen berücksichtigt und von den niederen und einfachen Formen absieht. So wenig wir im Stande sind, eine vollständig scharfe und erschöpfende Diagnose eines Phylon zu geben, welche alle embryologischen und palaeontologischen Entwickelungszustände desselben umfasst, so wenig ist dies von einem der drei organischen Reiche möglich, deren jedes aus mehreren Phylen zu bestehen scheint. Nur dann können wir eine solche differentielle Diagnose aufstellen, wenn wir die am meisten ausgebildeten und characteristischen Haupt- formen vorwiegend berücksichtigen und aus den typischen Characteren der Mehrzahl der Formen ein allgemeines Bild des Ganzen in grossen Zügen und skizzenhaften Umrissen entwerfen. Wenn wir nun ausdrücklich unter dieser Voraussetzung und unter dem besonderen Hinweis darauf, dass jedes Reich nur eine künstliche Collectivgruppe von mehreren selbstständigen, aber analog entwickelten Phylen ist, eine allgemeine Characteristik der drei Reiche vorstehend versucht haben, so glauben wir, dass sich daraus die Vorzüge unserer Dreitheilung vor der bisher gültigen Zweitheilung ergeben haben wer- den. Die Dreitheilung hat besonders den grossen Vortheil, dass jedes der beiden nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin entwickelten grossen Reiche sich weit schärfer, sicherer und vollständiger charac- terisiren lässt, als es bei der Zweitheilung möglich ist. Denn wir haben in den unzweifelhaften Pflanzen (Cormophyten, Nematophyten, Characeen, Algen) eine Summe von hervortretenden Eigenschaften verbun-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/265>, abgerufen am 24.11.2024.