Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Begriff und Aufgabe der Tectologie. eine besonders characteristische Eigenthümlichkeit der organischenMaterie, gegenüber der anorganischen, bezeichnet. Der Organismus ist ein untheilbares Ganzes, weil er aus integrirenden ungleichartigen Theilen nach einem zweckmässigen Plane zusammengesetzt ist. Diese "praestabilirte Harmonie der Organisation" unterscheidet die letztere wesentlich von der Krystallisation der Anorgane, welche bloss "Aus- druck der waltenden Kräfte ist." Im Krystalle, dem anorganischen Individuum, ist Nichts von der "Zweckmässigkeit der Gestaltung für die Thätigkeit des Ganzen" zu finden, welche den Organismus aus- zeichnet. Im zweiten Bande seines Handbuchs geht Johannes Müller ausführlicher auf diese Fragen ein, im ersten Abschnitte des siebenten Buches, welches "von der gleichartigen Fortpflanzung oder ungeschlechtlichen Zeugung" handelt. Hier wird als characteristische Eigenthümlichkeit aller organischen Wesen, der Thiere, wie der Pflan- zen, die "Multiplication durch das Wachsthum" bezeichnet. Die in jedem organischen Keime enthaltene Kraft der Entwickelung zu einem Individuum wird durch das Wachsthum desselben multiplicirt, und derselbe organische Körper, welcher anfangs ein einziges Individuum war, repräsentirt späterhin eine Vielheit von solchen. "Die ent- wickelte Pflanze ist ein Multiplum der primitiven Pflanze, ein System von Individuen, die sich bis auf die Blätter reduciren lassen." Das- selbe Verhältniss findet sich bei den Thieren wieder, bald ganz so offenbar, wie in den Pflanzen (so bei den Hydren und anderen Poly- pen), bald versteckter, so jedoch, dass es "sich durch eine Kette von Schlüssen an den Tag ziehen lässt." Die Gestaltungsfähigkeit ein- zelner Theile des Individuums zu neuen Individuen ist bei den ver- schiedenen Thieren sehr verschieden gross, am ausgedehntesten bei den niedrigsten, die den Pflanzen am nächsten stehen, und nimmt nach oben hin, bei den höheren, stufenweis ab; bei den meisten höhe- ren ist sie bloss auf die Eier beschränkt. In dieser ganzen Exposi- tion, welche, abgesehen von dem grösstentheils teleologisch-dualisti- schen Standpunkte, viele treffliche Bemerkungen enthält, wird von Johannes Müller fast bloss die physiologische und insbesondere die psychologische Individualität berücksichtigt, und als Kri- terium des Individuums einerseits die Reproductionsfähigkeit des Thei- les zum Ganzen, andererseits die Einheit seiner psychischen Lei- stungen, wie sie sich namentlich im einheitlichen Willen äussert, hin- gestellt. Den sehr wichtigen Unterschied der physiologischen und morpho- Begriff und Aufgabe der Tectologie. eine besonders characteristische Eigenthümlichkeit der organischenMaterie, gegenüber der anorganischen, bezeichnet. Der Organismus ist ein untheilbares Ganzes, weil er aus integrirenden ungleichartigen Theilen nach einem zweckmässigen Plane zusammengesetzt ist. Diese „praestabilirte Harmonie der Organisation“ unterscheidet die letztere wesentlich von der Krystallisation der Anorgane, welche bloss „Aus- druck der waltenden Kräfte ist.“ Im Krystalle, dem anorganischen Individuum, ist Nichts von der „Zweckmässigkeit der Gestaltung für die Thätigkeit des Ganzen“ zu finden, welche den Organismus aus- zeichnet. Im zweiten Bande seines Handbuchs geht Johannes Müller ausführlicher auf diese Fragen ein, im ersten Abschnitte des siebenten Buches, welches „von der gleichartigen Fortpflanzung oder ungeschlechtlichen Zeugung“ handelt. Hier wird als characteristische Eigenthümlichkeit aller organischen Wesen, der Thiere, wie der Pflan- zen, die „Multiplication durch das Wachsthum“ bezeichnet. Die in jedem organischen Keime enthaltene Kraft der Entwickelung zu einem Individuum wird durch das Wachsthum desselben multiplicirt, und derselbe organische Körper, welcher anfangs ein einziges Individuum war, repräsentirt späterhin eine Vielheit von solchen. „Die ent- wickelte Pflanze ist ein Multiplum der primitiven Pflanze, ein System von Individuen, die sich bis auf die Blätter reduciren lassen.“ Das- selbe Verhältniss findet sich bei den Thieren wieder, bald ganz so offenbar, wie in den Pflanzen (so bei den Hydren und anderen Poly- pen), bald versteckter, so jedoch, dass es „sich durch eine Kette von Schlüssen an den Tag ziehen lässt.“ Die Gestaltungsfähigkeit ein- zelner Theile des Individuums zu neuen Individuen ist bei den ver- schiedenen Thieren sehr verschieden gross, am ausgedehntesten bei den niedrigsten, die den Pflanzen am nächsten stehen, und nimmt nach oben hin, bei den höheren, stufenweis ab; bei den meisten höhe- ren ist sie bloss auf die Eier beschränkt. In dieser ganzen Exposi- tion, welche, abgesehen von dem grösstentheils teleologisch-dualisti- schen Standpunkte, viele treffliche Bemerkungen enthält, wird von Johannes Müller fast bloss die physiologische und insbesondere die psychologische Individualität berücksichtigt, und als Kri- terium des Individuums einerseits die Reproductionsfähigkeit des Thei- les zum Ganzen, andererseits die Einheit seiner psychischen Lei- stungen, wie sie sich namentlich im einheitlichen Willen äussert, hin- gestellt. Den sehr wichtigen Unterschied der physiologischen und morpho- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0295" n="256"/><fw place="top" type="header">Begriff und Aufgabe der Tectologie.</fw><lb/> eine besonders characteristische Eigenthümlichkeit der organischen<lb/> Materie, gegenüber der anorganischen, bezeichnet. 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Begriff und Aufgabe der Tectologie.
eine besonders characteristische Eigenthümlichkeit der organischen
Materie, gegenüber der anorganischen, bezeichnet. Der Organismus
ist ein untheilbares Ganzes, weil er aus integrirenden ungleichartigen
Theilen nach einem zweckmässigen Plane zusammengesetzt ist. Diese
„praestabilirte Harmonie der Organisation“ unterscheidet die letztere
wesentlich von der Krystallisation der Anorgane, welche bloss „Aus-
druck der waltenden Kräfte ist.“ Im Krystalle, dem anorganischen
Individuum, ist Nichts von der „Zweckmässigkeit der Gestaltung für
die Thätigkeit des Ganzen“ zu finden, welche den Organismus aus-
zeichnet. Im zweiten Bande seines Handbuchs geht Johannes
Müller ausführlicher auf diese Fragen ein, im ersten Abschnitte des
siebenten Buches, welches „von der gleichartigen Fortpflanzung oder
ungeschlechtlichen Zeugung“ handelt. Hier wird als characteristische
Eigenthümlichkeit aller organischen Wesen, der Thiere, wie der Pflan-
zen, die „Multiplication durch das Wachsthum“ bezeichnet. Die in
jedem organischen Keime enthaltene Kraft der Entwickelung zu einem
Individuum wird durch das Wachsthum desselben multiplicirt, und
derselbe organische Körper, welcher anfangs ein einziges Individuum
war, repräsentirt späterhin eine Vielheit von solchen. „Die ent-
wickelte Pflanze ist ein Multiplum der primitiven Pflanze, ein System
von Individuen, die sich bis auf die Blätter reduciren lassen.“ Das-
selbe Verhältniss findet sich bei den Thieren wieder, bald ganz so
offenbar, wie in den Pflanzen (so bei den Hydren und anderen Poly-
pen), bald versteckter, so jedoch, dass es „sich durch eine Kette von
Schlüssen an den Tag ziehen lässt.“ Die Gestaltungsfähigkeit ein-
zelner Theile des Individuums zu neuen Individuen ist bei den ver-
schiedenen Thieren sehr verschieden gross, am ausgedehntesten bei
den niedrigsten, die den Pflanzen am nächsten stehen, und nimmt
nach oben hin, bei den höheren, stufenweis ab; bei den meisten höhe-
ren ist sie bloss auf die Eier beschränkt. In dieser ganzen Exposi-
tion, welche, abgesehen von dem grösstentheils teleologisch-dualisti-
schen Standpunkte, viele treffliche Bemerkungen enthält, wird von
Johannes Müller fast bloss die physiologische und insbesondere
die psychologische Individualität berücksichtigt, und als Kri-
terium des Individuums einerseits die Reproductionsfähigkeit des Thei-
les zum Ganzen, andererseits die Einheit seiner psychischen Lei-
stungen, wie sie sich namentlich im einheitlichen Willen äussert, hin-
gestellt.
Den sehr wichtigen Unterschied der physiologischen und morpho-
logischen Individualität des Thieres zu erörtern, fand sich erst Ge-
legenheit, als man diejenigen Gruppen niederer Thiere näher kennen
lernte, bei denen man im Zweifel sein kann, ob man sie als einzelne
Individuen oder als Gesellschaften von solchen, gleich den Pflanzen-
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