Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Begriff und Aufgabe der Tectologie.
weniger entwickelt und scharf bestimmt, als es bei der pflanzlichen
Individualität der Fall ist. Insbesondere sind die verschiedenen Ord-
nungen von Individualitäten, welche die Botaniker (Decandolle,
Schleiden, Nägeli)
in verschiedener Weise mehr oder minder scharf
als Kategorieen verschiedenen Grades zu bestimmen versucht haben, von
den Zoologen bisher nicht erkannt oder doch nicht irgend präcis als
solche bezeichnet worden, obwohl der Organismus der höheren Thiere,
ganz ebenso wie der der höheren Pflanzen, sich aus subordinirten
Individualitäten verschiedener Ordnung zusammensetzt. Allerdings
ist in neuerer Zeit mehr und mehr auch in der thierischen Biologie
die Zelle als Elementar-Organismus und als Individualität erster Ord-
nung anerkannt worden, und der ganze Organismus als eine organi-
sirte Gesellschaft, als ein Staat von Zellen. Insbesondere hat das
sorgfältige histologische Studium des menschlichen Körpers mehr und
mehr die Ansicht befestigt, dass die Zellen als die letzten selbststän-
digen "Lebensheerde" den ganzen Organismus constituiren, und dass
die Lebensthätigkeit des letzteren nichts Anderes ist, als die Summe
der Lebensthätigkeiten der einzelnen Zellen. Namentlich haben Brücke
u. A. die normalen, Virchow die pathologischen Functionen des
menschlichen Organismus in dieser Weise als das Resultat der ge-
sammten Functionen der einzelnen Zellen oder "Elementar-Organismen"
nachzuweisen versucht. Da jedoch im thierischen Organismus die ein-
zelnen Zellen weniger selbstständig sind als im pflanzlichen, da ihre
Wechselbeziehungen unter einander und zum Ganzen innigere sind,
so ist diese richtige Auffassung nicht in der Weise wie bei den Pflan-
zen, zu allgemeiner Geltung gelangt. Ebenso hat man die Individua-
litäten höherer Ordnung, welche bei den Pflanzen theilweis schon er-
kannt worden waren, beim Thiere fast nirgends berücksichtigt. Eine
Ausnahme machen hier nur die Individuen höchster Ordnung, die
Stöcke (insbesondere die Colonieen der Würmer und Coelenteraten),
deren pflanzenstockähnliche Zusammensetzung zu einer analogen Be-
trachtung auffordert. Hier war es denn auch, wo der Unterschied
zwischen physiologischer und morphologischer Individualität mit Recht
besonders hervorgehoben und von den Zoologen (besonders Leuckart
und V. Carus) schärfer betont wurde, als es bei den Pflanzen ge-
schehen war.

Nach unserer Ansicht findet die Theorie von der relativen Indivi-
dualität ebenso in der Tectologie der Thiere, wie der Pflanzen, allge-
meine Anwendung, und wir können auch bei den Thieren allgemein
mehrere über einander geordnete Kategorieen von Individuen unter-
scheiden, von denen jede höhere zwar eine geschlossene Einheit, aber
dennoch zugleich eine Vielheit von subordinirten Individuen niederer
Stufe darstellt. Wir werden im Folgenden den Beweis zu führen ver-

Begriff und Aufgabe der Tectologie.
weniger entwickelt und scharf bestimmt, als es bei der pflanzlichen
Individualität der Fall ist. Insbesondere sind die verschiedenen Ord-
nungen von Individualitäten, welche die Botaniker (Decandolle,
Schleiden, Nägeli)
in verschiedener Weise mehr oder minder scharf
als Kategorieen verschiedenen Grades zu bestimmen versucht haben, von
den Zoologen bisher nicht erkannt oder doch nicht irgend präcis als
solche bezeichnet worden, obwohl der Organismus der höheren Thiere,
ganz ebenso wie der der höheren Pflanzen, sich aus subordinirten
Individualitäten verschiedener Ordnung zusammensetzt. Allerdings
ist in neuerer Zeit mehr und mehr auch in der thierischen Biologie
die Zelle als Elementar-Organismus und als Individualität erster Ord-
nung anerkannt worden, und der ganze Organismus als eine organi-
sirte Gesellschaft, als ein Staat von Zellen. Insbesondere hat das
sorgfältige histologische Studium des menschlichen Körpers mehr und
mehr die Ansicht befestigt, dass die Zellen als die letzten selbststän-
digen „Lebensheerde“ den ganzen Organismus constituiren, und dass
die Lebensthätigkeit des letzteren nichts Anderes ist, als die Summe
der Lebensthätigkeiten der einzelnen Zellen. Namentlich haben Brücke
u. A. die normalen, Virchow die pathologischen Functionen des
menschlichen Organismus in dieser Weise als das Resultat der ge-
sammten Functionen der einzelnen Zellen oder „Elementar-Organismen“
nachzuweisen versucht. Da jedoch im thierischen Organismus die ein-
zelnen Zellen weniger selbstständig sind als im pflanzlichen, da ihre
Wechselbeziehungen unter einander und zum Ganzen innigere sind,
so ist diese richtige Auffassung nicht in der Weise wie bei den Pflan-
zen, zu allgemeiner Geltung gelangt. Ebenso hat man die Individua-
litäten höherer Ordnung, welche bei den Pflanzen theilweis schon er-
kannt worden waren, beim Thiere fast nirgends berücksichtigt. Eine
Ausnahme machen hier nur die Individuen höchster Ordnung, die
Stöcke (insbesondere die Colonieen der Würmer und Coelenteraten),
deren pflanzenstockähnliche Zusammensetzung zu einer analogen Be-
trachtung auffordert. Hier war es denn auch, wo der Unterschied
zwischen physiologischer und morphologischer Individualität mit Recht
besonders hervorgehoben und von den Zoologen (besonders Leuckart
und V. Carus) schärfer betont wurde, als es bei den Pflanzen ge-
schehen war.

Nach unserer Ansicht findet die Theorie von der relativen Indivi-
dualität ebenso in der Tectologie der Thiere, wie der Pflanzen, allge-
meine Anwendung, und wir können auch bei den Thieren allgemein
mehrere über einander geordnete Kategorieen von Individuen unter-
scheiden, von denen jede höhere zwar eine geschlossene Einheit, aber
dennoch zugleich eine Vielheit von subordinirten Individuen niederer
Stufe darstellt. Wir werden im Folgenden den Beweis zu führen ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0303" n="264"/><fw place="top" type="header">Begriff und Aufgabe der Tectologie.</fw><lb/>
weniger entwickelt und scharf bestimmt, als es bei der pflanzlichen<lb/>
Individualität der Fall ist. Insbesondere sind die verschiedenen Ord-<lb/>
nungen von Individualitäten, welche die Botaniker <hi rendition="#g">(Decandolle,<lb/>
Schleiden, Nägeli)</hi> in verschiedener Weise mehr oder minder scharf<lb/>
als Kategorieen verschiedenen Grades zu bestimmen versucht haben, von<lb/>
den Zoologen bisher nicht erkannt oder doch nicht irgend präcis als<lb/>
solche bezeichnet worden, obwohl der Organismus der höheren Thiere,<lb/>
ganz ebenso wie der der höheren Pflanzen, sich aus subordinirten<lb/>
Individualitäten verschiedener Ordnung zusammensetzt. Allerdings<lb/>
ist in neuerer Zeit mehr und mehr auch in der thierischen Biologie<lb/>
die Zelle als Elementar-Organismus und als Individualität erster Ord-<lb/>
nung anerkannt worden, und der ganze Organismus als eine organi-<lb/>
sirte Gesellschaft, als ein Staat von Zellen. Insbesondere hat das<lb/>
sorgfältige histologische Studium des menschlichen Körpers mehr und<lb/>
mehr die Ansicht befestigt, dass die Zellen als die letzten selbststän-<lb/>
digen &#x201E;Lebensheerde&#x201C; den ganzen Organismus constituiren, und dass<lb/>
die Lebensthätigkeit des letzteren nichts Anderes ist, als die Summe<lb/>
der Lebensthätigkeiten der einzelnen Zellen. Namentlich haben <hi rendition="#g">Brücke</hi><lb/>
u. A. die normalen, <hi rendition="#g">Virchow</hi> die pathologischen Functionen des<lb/>
menschlichen Organismus in dieser Weise als das Resultat der ge-<lb/>
sammten Functionen der einzelnen Zellen oder &#x201E;Elementar-Organismen&#x201C;<lb/>
nachzuweisen versucht. Da jedoch im thierischen Organismus die ein-<lb/>
zelnen Zellen weniger selbstständig sind als im pflanzlichen, da ihre<lb/>
Wechselbeziehungen unter einander und zum Ganzen innigere sind,<lb/>
so ist diese richtige Auffassung nicht in der Weise wie bei den Pflan-<lb/>
zen, zu allgemeiner Geltung gelangt. Ebenso hat man die Individua-<lb/>
litäten höherer Ordnung, welche bei den Pflanzen theilweis schon er-<lb/>
kannt worden waren, beim Thiere fast nirgends berücksichtigt. Eine<lb/>
Ausnahme machen hier nur die Individuen höchster Ordnung, die<lb/>
Stöcke (insbesondere die Colonieen der Würmer und Coelenteraten),<lb/>
deren pflanzenstockähnliche Zusammensetzung zu einer analogen Be-<lb/>
trachtung auffordert. Hier war es denn auch, wo der Unterschied<lb/>
zwischen physiologischer und morphologischer Individualität mit Recht<lb/>
besonders hervorgehoben und von den Zoologen (besonders <hi rendition="#g">Leuckart</hi><lb/>
und V. <hi rendition="#g">Carus</hi>) schärfer betont wurde, als es bei den Pflanzen ge-<lb/>
schehen war.</p><lb/>
            <p>Nach unserer Ansicht findet die Theorie von der relativen Indivi-<lb/>
dualität ebenso in der Tectologie der Thiere, wie der Pflanzen, allge-<lb/>
meine Anwendung, und wir können auch bei den Thieren allgemein<lb/>
mehrere über einander geordnete Kategorieen von Individuen unter-<lb/>
scheiden, von denen jede höhere zwar eine geschlossene Einheit, aber<lb/>
dennoch zugleich eine Vielheit von subordinirten Individuen niederer<lb/>
Stufe darstellt. Wir werden im Folgenden den Beweis zu führen ver-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0303] Begriff und Aufgabe der Tectologie. weniger entwickelt und scharf bestimmt, als es bei der pflanzlichen Individualität der Fall ist. Insbesondere sind die verschiedenen Ord- nungen von Individualitäten, welche die Botaniker (Decandolle, Schleiden, Nägeli) in verschiedener Weise mehr oder minder scharf als Kategorieen verschiedenen Grades zu bestimmen versucht haben, von den Zoologen bisher nicht erkannt oder doch nicht irgend präcis als solche bezeichnet worden, obwohl der Organismus der höheren Thiere, ganz ebenso wie der der höheren Pflanzen, sich aus subordinirten Individualitäten verschiedener Ordnung zusammensetzt. Allerdings ist in neuerer Zeit mehr und mehr auch in der thierischen Biologie die Zelle als Elementar-Organismus und als Individualität erster Ord- nung anerkannt worden, und der ganze Organismus als eine organi- sirte Gesellschaft, als ein Staat von Zellen. Insbesondere hat das sorgfältige histologische Studium des menschlichen Körpers mehr und mehr die Ansicht befestigt, dass die Zellen als die letzten selbststän- digen „Lebensheerde“ den ganzen Organismus constituiren, und dass die Lebensthätigkeit des letzteren nichts Anderes ist, als die Summe der Lebensthätigkeiten der einzelnen Zellen. Namentlich haben Brücke u. A. die normalen, Virchow die pathologischen Functionen des menschlichen Organismus in dieser Weise als das Resultat der ge- sammten Functionen der einzelnen Zellen oder „Elementar-Organismen“ nachzuweisen versucht. Da jedoch im thierischen Organismus die ein- zelnen Zellen weniger selbstständig sind als im pflanzlichen, da ihre Wechselbeziehungen unter einander und zum Ganzen innigere sind, so ist diese richtige Auffassung nicht in der Weise wie bei den Pflan- zen, zu allgemeiner Geltung gelangt. Ebenso hat man die Individua- litäten höherer Ordnung, welche bei den Pflanzen theilweis schon er- kannt worden waren, beim Thiere fast nirgends berücksichtigt. Eine Ausnahme machen hier nur die Individuen höchster Ordnung, die Stöcke (insbesondere die Colonieen der Würmer und Coelenteraten), deren pflanzenstockähnliche Zusammensetzung zu einer analogen Be- trachtung auffordert. Hier war es denn auch, wo der Unterschied zwischen physiologischer und morphologischer Individualität mit Recht besonders hervorgehoben und von den Zoologen (besonders Leuckart und V. Carus) schärfer betont wurde, als es bei den Pflanzen ge- schehen war. Nach unserer Ansicht findet die Theorie von der relativen Indivi- dualität ebenso in der Tectologie der Thiere, wie der Pflanzen, allge- meine Anwendung, und wir können auch bei den Thieren allgemein mehrere über einander geordnete Kategorieen von Individuen unter- scheiden, von denen jede höhere zwar eine geschlossene Einheit, aber dennoch zugleich eine Vielheit von subordinirten Individuen niederer Stufe darstellt. Wir werden im Folgenden den Beweis zu führen ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/303
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/303>, abgerufen am 24.11.2024.