I. Eintheilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie.
Aufgabe lediglich die erklärende Betrachtung der organischen Formen an sich, ohne jede Rücksicht auf die ihnen zu Grunde liegenden che- mischen Substrate und auf ihre stoffliche Zusammensetzung.
Da unsere Aufgabe nun dahin geht, die verschiedenen Formen der Organismen nicht allein kennen zu lernen und zu beschreiben, sondern dieselben auch vergleichend zu untersuchen und ihre Bildung auf allgemeine Gesetze zurückzuführen, so würde sich als nächste Ein- theilung der Morphologie vielleicht die Spaltung in eine beschrei- bende und in eine erklärende Formenlehre darbieten. Diese Unter- scheidung ist in der That theoretisch gemacht und häufig auch prak- tisch durchgeführt worden. Auf ihr beruht z. B. die Differenz zwischen der "Zootomie" und der "vergleichenden Anatomie," von denen sich die erstere auf die Beschreibung aller einzelnen thierischen Or- ganisations-Verhältnisse beschränkt, während die letztere dieselben zu erklären, d. h. auf allgemeine Gesetze zurückzuführen strebt. Wäh- rend die Zootomie in dem Labyrinthe der zahllosen Einzelformen und in der unendlichen Mannichfaltigkeit der einzelnen Organisationswei- sen sich verliert und es bloss zu einer einfachen Aneinanderreihung der beobachteten Thatsachen bringt, weiss die vergleichende Anatomie den leitenden Ariadne-Faden durch alle verwickelten Windungen des Labyrinthes hindurch festzuhalten und schwingt sich dadurch zum be- herrschenden Ueberblick des Ganzen empor. So wesentlich dieser Unterschied zwischen beiden Disciplinen aber auch ist, so ist er doch im Grunde nur ein Unterschied in der Methode und in der Intentisät der Erkenntniss. Die Zootomie verfährt analytisch und begnügt sich mit der Kenntniss, die vergleichende Anatomie verfährt synthetisch und strebt nach der Erklärung der Erscheinungen; da- her können wir eigentlich nur die letztere als wirklich wissenschaft- liche Morphologie bezeichnen, welcher die erstere als untergeordnete Hülfswissenschaft nur das Material liefert. Die Spaltung der Morpho- logie in eine beschreibende (descriptive) und eine erklärende (philoso- phische) Formenlehre als zwei coordinirte Hauptzweige ist demnach zu verwerfen.
Weit wichtiger ist für uns der Unterschied zwischen der werden- den und der vollendeten Form der Organismen. Jedes Sein wird nur durch sein Werden erkannt. Dieser wichtige Grundsatz ist in der wissenschaftlichen Morphologie längst thatsächlich vielfach berück- sichtigt und darauf hin die Entwickelungsgeschichte der organischen Formen als einer der wichtigsten Zweige der letzteren anerkannt wor- den. Wir theilen diese Anerkennung so sehr, dass wir der Wissen- schaft von der werdenden und sich entwickelnden Form des Organis- mus den gleichen Werth, wie der Wissenschaft von der vollendeten Form zugestehen, und darauf hin die gesammte Morphologie in die
I. Eintheilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie.
Aufgabe lediglich die erklärende Betrachtung der organischen Formen an sich, ohne jede Rücksicht auf die ihnen zu Grunde liegenden che- mischen Substrate und auf ihre stoffliche Zusammensetzung.
Da unsere Aufgabe nun dahin geht, die verschiedenen Formen der Organismen nicht allein kennen zu lernen und zu beschreiben, sondern dieselben auch vergleichend zu untersuchen und ihre Bildung auf allgemeine Gesetze zurückzuführen, so würde sich als nächste Ein- theilung der Morphologie vielleicht die Spaltung in eine beschrei- bende und in eine erklärende Formenlehre darbieten. Diese Unter- scheidung ist in der That theoretisch gemacht und häufig auch prak- tisch durchgeführt worden. Auf ihr beruht z. B. die Differenz zwischen der „Zootomie“ und der „vergleichenden Anatomie,“ von denen sich die erstere auf die Beschreibung aller einzelnen thierischen Or- ganisations-Verhältnisse beschränkt, während die letztere dieselben zu erklären, d. h. auf allgemeine Gesetze zurückzuführen strebt. Wäh- rend die Zootomie in dem Labyrinthe der zahllosen Einzelformen und in der unendlichen Mannichfaltigkeit der einzelnen Organisationswei- sen sich verliert und es bloss zu einer einfachen Aneinanderreihung der beobachteten Thatsachen bringt, weiss die vergleichende Anatomie den leitenden Ariadne-Faden durch alle verwickelten Windungen des Labyrinthes hindurch festzuhalten und schwingt sich dadurch zum be- herrschenden Ueberblick des Ganzen empor. So wesentlich dieser Unterschied zwischen beiden Disciplinen aber auch ist, so ist er doch im Grunde nur ein Unterschied in der Methode und in der Intentisät der Erkenntniss. Die Zootomie verfährt analytisch und begnügt sich mit der Kenntniss, die vergleichende Anatomie verfährt synthetisch und strebt nach der Erklärung der Erscheinungen; da- her können wir eigentlich nur die letztere als wirklich wissenschaft- liche Morphologie bezeichnen, welcher die erstere als untergeordnete Hülfswissenschaft nur das Material liefert. Die Spaltung der Morpho- logie in eine beschreibende (descriptive) und eine erklärende (philoso- phische) Formenlehre als zwei coordinirte Hauptzweige ist demnach zu verwerfen.
Weit wichtiger ist für uns der Unterschied zwischen der werden- den und der vollendeten Form der Organismen. Jedes Sein wird nur durch sein Werden erkannt. Dieser wichtige Grundsatz ist in der wissenschaftlichen Morphologie längst thatsächlich vielfach berück- sichtigt und darauf hin die Entwickelungsgeschichte der organischen Formen als einer der wichtigsten Zweige der letzteren anerkannt wor- den. Wir theilen diese Anerkennung so sehr, dass wir der Wissen- schaft von der werdenden und sich entwickelnden Form des Organis- mus den gleichen Werth, wie der Wissenschaft von der vollendeten Form zugestehen, und darauf hin die gesammte Morphologie in die
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I. Eintheilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie.
Aufgabe lediglich die erklärende Betrachtung der organischen Formen
an sich, ohne jede Rücksicht auf die ihnen zu Grunde liegenden che-
mischen Substrate und auf ihre stoffliche Zusammensetzung.
Da unsere Aufgabe nun dahin geht, die verschiedenen Formen
der Organismen nicht allein kennen zu lernen und zu beschreiben,
sondern dieselben auch vergleichend zu untersuchen und ihre Bildung
auf allgemeine Gesetze zurückzuführen, so würde sich als nächste Ein-
theilung der Morphologie vielleicht die Spaltung in eine beschrei-
bende und in eine erklärende Formenlehre darbieten. Diese Unter-
scheidung ist in der That theoretisch gemacht und häufig auch prak-
tisch durchgeführt worden. Auf ihr beruht z. B. die Differenz zwischen
der „Zootomie“ und der „vergleichenden Anatomie,“ von denen
sich die erstere auf die Beschreibung aller einzelnen thierischen Or-
ganisations-Verhältnisse beschränkt, während die letztere dieselben
zu erklären, d. h. auf allgemeine Gesetze zurückzuführen strebt. Wäh-
rend die Zootomie in dem Labyrinthe der zahllosen Einzelformen und
in der unendlichen Mannichfaltigkeit der einzelnen Organisationswei-
sen sich verliert und es bloss zu einer einfachen Aneinanderreihung
der beobachteten Thatsachen bringt, weiss die vergleichende Anatomie
den leitenden Ariadne-Faden durch alle verwickelten Windungen des
Labyrinthes hindurch festzuhalten und schwingt sich dadurch zum be-
herrschenden Ueberblick des Ganzen empor. So wesentlich dieser
Unterschied zwischen beiden Disciplinen aber auch ist, so ist er doch
im Grunde nur ein Unterschied in der Methode und in der Intentisät
der Erkenntniss. Die Zootomie verfährt analytisch und begnügt
sich mit der Kenntniss, die vergleichende Anatomie verfährt
synthetisch und strebt nach der Erklärung der Erscheinungen; da-
her können wir eigentlich nur die letztere als wirklich wissenschaft-
liche Morphologie bezeichnen, welcher die erstere als untergeordnete
Hülfswissenschaft nur das Material liefert. Die Spaltung der Morpho-
logie in eine beschreibende (descriptive) und eine erklärende (philoso-
phische) Formenlehre als zwei coordinirte Hauptzweige ist demnach
zu verwerfen.
Weit wichtiger ist für uns der Unterschied zwischen der werden-
den und der vollendeten Form der Organismen. Jedes Sein wird
nur durch sein Werden erkannt. Dieser wichtige Grundsatz ist in
der wissenschaftlichen Morphologie längst thatsächlich vielfach berück-
sichtigt und darauf hin die Entwickelungsgeschichte der organischen
Formen als einer der wichtigsten Zweige der letzteren anerkannt wor-
den. Wir theilen diese Anerkennung so sehr, dass wir der Wissen-
schaft von der werdenden und sich entwickelnden Form des Organis-
mus den gleichen Werth, wie der Wissenschaft von der vollendeten
Form zugestehen, und darauf hin die gesammte Morphologie in die
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/62>, abgerufen am 21.11.2024.
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