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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
selbst das Ziel der Wissenschaft sei, und dass man das System nur mit
möglichst viel neuen Formen bereichern müsse, um sich um die zoologische und
botanische "Wissenschaft" bleibende Verdienste zu erwerben. So entstand
denn die grosse und traurige Schaar der "Museumszoologen" und der "Her-
bariumsbotaniker", die zwar in ihrem Museum und ihrem Herbarium auf das
genaueste Bescheid wussten und jede von ihren tausend Species mit Na-
men auswendig benennen konnten, dafür aber auch von den gröberen und
feineren Structurverhältnissen dieser Species, von ihrer Entwickelung und
Lebensgeschichte, von ihren physiologischen und anatomischen Verhältnissen
nicht das Mindeste wussten. Mit der wachsenden Zahl der verschiedenen
Formen, die neu bekannt und benannt wurden, wuchs die Zahl dieser sam-
melnden "Systematiker", denen das Museum und Herbarium nicht Mittel
und Material zum Studium der Organismen, sondern selbst Zweck wurde
und die über diesem nebensächlichen Mittel den Hauptzweck ganz vergassen.
So kam denn die Zeit, wo (wie Schleiden sehr treffend sagt) "ein Mann,
der 6000 Pflanzen mit Namen zu nennen wusste, schon desshalb ein Bo-
taniker, einer der 10,000 Pflanzen zu nennen wusste, ein grosser Botaniker
genannt wurde", ein Missverständniss, welches auch in der Zoologie gleicher-
weise herrschte.

Wenn man bedenkt, welche unendlichen Massen der besten Kräfte und
Mittel, welcher Aufwand von Arbeit und Mühe, von Geld und Zeit, von
Papier und Druckerschwärze vergeudet wurde, bloss um möglichst viele
verschiedene Formen in den zoologischen Museen und in den botanischen
Herbarien aufzuspeichern, und wenn man mit diesem ungeheuren Aufwande
von Mitteln den äusserst langsamen und unterbrochenen Fortschritt ver-
gleicht, den der wirklich wissenschaftliche Kern der Zoologie und Botanik
in dem ganzen vorigen Jahrhundert und in der ersten Hälfte des gegen-
wärtigen gemacht hat, so kann man nur in die gerechten Klagen und Vor-
würfe einstimmen, welche Schleiden seiner Zeit gegen die herrschende
Systematik auf dem Gebiete der Pflanzenkunde schleuderte. Leider steht es
aber mit der Thierkunde nicht viel besser. Auch die grosse Mehrzahl der
Zoologen vergass das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntniss über der Be-
schaffung der Mittel und Wege, die dazu führen sollen. Das "System"
wurde für diese wie für jene das Ideal und das eigentliche Ziel der
Wissenschaft.

Im Grossen und Ganzen betrachtet haben nun die meisten dieser syste-
matischen Bestrebungen, so weit sie sich lediglich mit Betrachtung, Unter-
scheidung und Benennung der äusseren Form der "Species" beschäftigen,
nicht mehr Werth, als die gleichen systematischen Bestrebungen, welche zur
Anlegung aller möglichen Curiositäten-Sammlungen führen. Auch die Lieb-
haber und Sammler von Kunst-Gegenständen aller Art können den gleichen
Anspruch auf wissenschaftliche Leistung erheben. Systematisch geordnete
Sammlungen von Wappen z. B., von alten Meubles, Waffen, Kostümen, von den
neuerdings so beliebten Briefmarken und anderen derartigen Kunstprodukten
können mit eben so viel Specifications-Sinn, mit eben so viel Freude und
Interesse an den verschiedenen Formen und ihrer systematischen Gruppirung
gepflegt werden und sind sehr häuflg mit mehr logischem Sinne geordnet

Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
selbst das Ziel der Wissenschaft sei, und dass man das System nur mit
möglichst viel neuen Formen bereichern müsse, um sich um die zoologische und
botanische „Wissenschaft“ bleibende Verdienste zu erwerben. So entstand
denn die grosse und traurige Schaar der „Museumszoologen“ und der „Her-
bariumsbotaniker“, die zwar in ihrem Museum und ihrem Herbarium auf das
genaueste Bescheid wussten und jede von ihren tausend Species mit Na-
men auswendig benennen konnten, dafür aber auch von den gröberen und
feineren Structurverhältnissen dieser Species, von ihrer Entwickelung und
Lebensgeschichte, von ihren physiologischen und anatomischen Verhältnissen
nicht das Mindeste wussten. Mit der wachsenden Zahl der verschiedenen
Formen, die neu bekannt und benannt wurden, wuchs die Zahl dieser sam-
melnden „Systematiker“, denen das Museum und Herbarium nicht Mittel
und Material zum Studium der Organismen, sondern selbst Zweck wurde
und die über diesem nebensächlichen Mittel den Hauptzweck ganz vergassen.
So kam denn die Zeit, wo (wie Schleiden sehr treffend sagt) „ein Mann,
der 6000 Pflanzen mit Namen zu nennen wusste, schon desshalb ein Bo-
taniker, einer der 10,000 Pflanzen zu nennen wusste, ein grosser Botaniker
genannt wurde“, ein Missverständniss, welches auch in der Zoologie gleicher-
weise herrschte.

Wenn man bedenkt, welche unendlichen Massen der besten Kräfte und
Mittel, welcher Aufwand von Arbeit und Mühe, von Geld und Zeit, von
Papier und Druckerschwärze vergeudet wurde, bloss um möglichst viele
verschiedene Formen in den zoologischen Museen und in den botanischen
Herbarien aufzuspeichern, und wenn man mit diesem ungeheuren Aufwande
von Mitteln den äusserst langsamen und unterbrochenen Fortschritt ver-
gleicht, den der wirklich wissenschaftliche Kern der Zoologie und Botanik
in dem ganzen vorigen Jahrhundert und in der ersten Hälfte des gegen-
wärtigen gemacht hat, so kann man nur in die gerechten Klagen und Vor-
würfe einstimmen, welche Schleiden seiner Zeit gegen die herrschende
Systematik auf dem Gebiete der Pflanzenkunde schleuderte. Leider steht es
aber mit der Thierkunde nicht viel besser. Auch die grosse Mehrzahl der
Zoologen vergass das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntniss über der Be-
schaffung der Mittel und Wege, die dazu führen sollen. Das „System“
wurde für diese wie für jene das Ideal und das eigentliche Ziel der
Wissenschaft.

Im Grossen und Ganzen betrachtet haben nun die meisten dieser syste-
matischen Bestrebungen, so weit sie sich lediglich mit Betrachtung, Unter-
scheidung und Benennung der äusseren Form der „Species“ beschäftigen,
nicht mehr Werth, als die gleichen systematischen Bestrebungen, welche zur
Anlegung aller möglichen Curiositäten-Sammlungen führen. Auch die Lieb-
haber und Sammler von Kunst-Gegenständen aller Art können den gleichen
Anspruch auf wissenschaftliche Leistung erheben. Systematisch geordnete
Sammlungen von Wappen z. B., von alten Meubles, Waffen, Kostümen, von den
neuerdings so beliebten Briefmarken und anderen derartigen Kunstprodukten
können mit eben so viel Specifications-Sinn, mit eben so viel Freude und
Interesse an den verschiedenen Formen und ihrer systematischen Gruppirung
gepflegt werden und sind sehr häuflg mit mehr logischem Sinne geordnet

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[32/0071] Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften. selbst das Ziel der Wissenschaft sei, und dass man das System nur mit möglichst viel neuen Formen bereichern müsse, um sich um die zoologische und botanische „Wissenschaft“ bleibende Verdienste zu erwerben. So entstand denn die grosse und traurige Schaar der „Museumszoologen“ und der „Her- bariumsbotaniker“, die zwar in ihrem Museum und ihrem Herbarium auf das genaueste Bescheid wussten und jede von ihren tausend Species mit Na- men auswendig benennen konnten, dafür aber auch von den gröberen und feineren Structurverhältnissen dieser Species, von ihrer Entwickelung und Lebensgeschichte, von ihren physiologischen und anatomischen Verhältnissen nicht das Mindeste wussten. Mit der wachsenden Zahl der verschiedenen Formen, die neu bekannt und benannt wurden, wuchs die Zahl dieser sam- melnden „Systematiker“, denen das Museum und Herbarium nicht Mittel und Material zum Studium der Organismen, sondern selbst Zweck wurde und die über diesem nebensächlichen Mittel den Hauptzweck ganz vergassen. So kam denn die Zeit, wo (wie Schleiden sehr treffend sagt) „ein Mann, der 6000 Pflanzen mit Namen zu nennen wusste, schon desshalb ein Bo- taniker, einer der 10,000 Pflanzen zu nennen wusste, ein grosser Botaniker genannt wurde“, ein Missverständniss, welches auch in der Zoologie gleicher- weise herrschte. Wenn man bedenkt, welche unendlichen Massen der besten Kräfte und Mittel, welcher Aufwand von Arbeit und Mühe, von Geld und Zeit, von Papier und Druckerschwärze vergeudet wurde, bloss um möglichst viele verschiedene Formen in den zoologischen Museen und in den botanischen Herbarien aufzuspeichern, und wenn man mit diesem ungeheuren Aufwande von Mitteln den äusserst langsamen und unterbrochenen Fortschritt ver- gleicht, den der wirklich wissenschaftliche Kern der Zoologie und Botanik in dem ganzen vorigen Jahrhundert und in der ersten Hälfte des gegen- wärtigen gemacht hat, so kann man nur in die gerechten Klagen und Vor- würfe einstimmen, welche Schleiden seiner Zeit gegen die herrschende Systematik auf dem Gebiete der Pflanzenkunde schleuderte. Leider steht es aber mit der Thierkunde nicht viel besser. Auch die grosse Mehrzahl der Zoologen vergass das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntniss über der Be- schaffung der Mittel und Wege, die dazu führen sollen. Das „System“ wurde für diese wie für jene das Ideal und das eigentliche Ziel der Wissenschaft. Im Grossen und Ganzen betrachtet haben nun die meisten dieser syste- matischen Bestrebungen, so weit sie sich lediglich mit Betrachtung, Unter- scheidung und Benennung der äusseren Form der „Species“ beschäftigen, nicht mehr Werth, als die gleichen systematischen Bestrebungen, welche zur Anlegung aller möglichen Curiositäten-Sammlungen führen. Auch die Lieb- haber und Sammler von Kunst-Gegenständen aller Art können den gleichen Anspruch auf wissenschaftliche Leistung erheben. Systematisch geordnete Sammlungen von Wappen z. B., von alten Meubles, Waffen, Kostümen, von den neuerdings so beliebten Briefmarken und anderen derartigen Kunstprodukten können mit eben so viel Specifications-Sinn, mit eben so viel Freude und Interesse an den verschiedenen Formen und ihrer systematischen Gruppirung gepflegt werden und sind sehr häuflg mit mehr logischem Sinne geordnet

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/71>, abgerufen am 21.11.2024.