sehr häufig geschieht, der Anatomie bloss die Untersuchung des inneren Organismus, der Systematik dagegen die Darstellung der äusseren Form desselben zuweisen will. Aeussere Gestalt und innere Structur und Zusammensetzung sind so unzertrennlich verbunden, dass jede gesonderte Betrachtung des Einen und des Anderen nur zu einer unvollständigen und daher fehlerhaften Erkenntniss des Organismus führen kann. Beide fallen gleichmässig der Anatomie und der Syste- matik anheim, und die letztere soll nur das Wichtigste desjenigen in kürzester übersichtlicher Form darstellen, was die erstere auf ihrem langen mühsamen Wege im Einzelnen alles gewonnen und ausführlich bewiesen hat.
Wollen wir den üblichen Unterschied von Anatomen und Systematikern, der in der zoologischen und botanischen Praxis so vielfach gebraucht wird, festhalten, so können wir nur sagen: der "reine Systematiker" begnügt sich mit der oberflächlichsten Erkenntniss der Organismen und legt allen Werth auf möglichst extensive (und möglichst wenig intensive!) Kenntniss zahl- reicher verschiedener Formen und ihrer äusserlich unterscheidenden Charak- tere. Er versteht wenig oder nichts von den wesentlichsten und den für die Erkenntniss der Verwandtschaft wichtigsten (inneren) Form-Verhältnissen. Der "reine Anatom" dagegen legt auf letztere mit Recht den Hauptwerth, kommt dadurch der Erkenntniss der wahren Blutsverwandtschaft der Or- ganismen viel näher und nähert sich beim Aufbau eines Systems viel mehr dem natürlichen Systeme, als es der eigentliche Systematiker thut, der nur die äusseren, viel minder wichtigen Charactere benutzt. Die letzteren sind viel unzuverlässiger, weil sie grossentheils nur durch Anpassung erworben sind, während die inneren oder anatomischen Charactere weniger durch An- passung verändert sind, und daher den erblichen Character des gemein- samen Stammes in weit höherem Grade, als die äusseren Körperformen beibe- halten haben. Dagegen verliert der exclusive reine Anatom, welcher die Systematik vernachlässigt, dadurch den Ueberblick der unendlichen Formen- Mannichfaltigkeit, welche durch das innere Band der Verwandtschaft zu einem harmonischen Ganzen geordnet wird, und die Genealogie der Or- ganismen, die Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der Stämme (Phyla) bleibt ihm verschlossen.
Wenn bei den höheren Thieren, insbesondere bei den Wirbel-, Glie- der- und Weichthieren der übliche Sprachgebrauch noch einigermaassen im Stande ist, die Systematik als "Betrachtung der äusseren Körper- form" von der Anatomie als "Betrachtung des inneren Körperbaues" zu unterscheiden, so ist dagegen diese Unterscheidung bei den meisten niederen Thieren, ebenso wie bei den meisten Pflanzen, ganz unmöglich. Bei allen rein mikroskopischen Organismen, sowie bei allen vollkommen durchsichtigen Thieren fällt von selbst die Betrachtung des inneren und äusseren Organismus zusammen. Hier ist eine Anatomie im eigentlichen Sinne des Worts, eine Zergliederungskunde, in den meisten Fällen weder nöthig, noch überhaupt nur möglich. Wo, wie bei den meisten Coelenteraten
III. Anatomie und Systematik.
sehr häufig geschieht, der Anatomie bloss die Untersuchung des inneren Organismus, der Systematik dagegen die Darstellung der äusseren Form desselben zuweisen will. Aeussere Gestalt und innere Structur und Zusammensetzung sind so unzertrennlich verbunden, dass jede gesonderte Betrachtung des Einen und des Anderen nur zu einer unvollständigen und daher fehlerhaften Erkenntniss des Organismus führen kann. Beide fallen gleichmässig der Anatomie und der Syste- matik anheim, und die letztere soll nur das Wichtigste desjenigen in kürzester übersichtlicher Form darstellen, was die erstere auf ihrem langen mühsamen Wege im Einzelnen alles gewonnen und ausführlich bewiesen hat.
Wollen wir den üblichen Unterschied von Anatomen und Systematikern, der in der zoologischen und botanischen Praxis so vielfach gebraucht wird, festhalten, so können wir nur sagen: der „reine Systematiker“ begnügt sich mit der oberflächlichsten Erkenntniss der Organismen und legt allen Werth auf möglichst extensive (und möglichst wenig intensive!) Kenntniss zahl- reicher verschiedener Formen und ihrer äusserlich unterscheidenden Charak- tere. Er versteht wenig oder nichts von den wesentlichsten und den für die Erkenntniss der Verwandtschaft wichtigsten (inneren) Form-Verhältnissen. Der „reine Anatom“ dagegen legt auf letztere mit Recht den Hauptwerth, kommt dadurch der Erkenntniss der wahren Blutsverwandtschaft der Or- ganismen viel näher und nähert sich beim Aufbau eines Systems viel mehr dem natürlichen Systeme, als es der eigentliche Systematiker thut, der nur die äusseren, viel minder wichtigen Charactere benutzt. Die letzteren sind viel unzuverlässiger, weil sie grossentheils nur durch Anpassung erworben sind, während die inneren oder anatomischen Charactere weniger durch An- passung verändert sind, und daher den erblichen Character des gemein- samen Stammes in weit höherem Grade, als die äusseren Körperformen beibe- halten haben. Dagegen verliert der exclusive reine Anatom, welcher die Systematik vernachlässigt, dadurch den Ueberblick der unendlichen Formen- Mannichfaltigkeit, welche durch das innere Band der Verwandtschaft zu einem harmonischen Ganzen geordnet wird, und die Genealogie der Or- ganismen, die Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der Stämme (Phyla) bleibt ihm verschlossen.
Wenn bei den höheren Thieren, insbesondere bei den Wirbel-, Glie- der- und Weichthieren der übliche Sprachgebrauch noch einigermaassen im Stande ist, die Systematik als „Betrachtung der äusseren Körper- form“ von der Anatomie als „Betrachtung des inneren Körperbaues“ zu unterscheiden, so ist dagegen diese Unterscheidung bei den meisten niederen Thieren, ebenso wie bei den meisten Pflanzen, ganz unmöglich. Bei allen rein mikroskopischen Organismen, sowie bei allen vollkommen durchsichtigen Thieren fällt von selbst die Betrachtung des inneren und äusseren Organismus zusammen. Hier ist eine Anatomie im eigentlichen Sinne des Worts, eine Zergliederungskunde, in den meisten Fällen weder nöthig, noch überhaupt nur möglich. Wo, wie bei den meisten Coelenteraten
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III. Anatomie und Systematik.
sehr häufig geschieht, der Anatomie bloss die Untersuchung des
inneren Organismus, der Systematik dagegen die Darstellung der
äusseren Form desselben zuweisen will. Aeussere Gestalt und innere
Structur und Zusammensetzung sind so unzertrennlich verbunden, dass
jede gesonderte Betrachtung des Einen und des Anderen nur zu einer
unvollständigen und daher fehlerhaften Erkenntniss des Organismus
führen kann. Beide fallen gleichmässig der Anatomie und der Syste-
matik anheim, und die letztere soll nur das Wichtigste desjenigen in
kürzester übersichtlicher Form darstellen, was die erstere auf ihrem
langen mühsamen Wege im Einzelnen alles gewonnen und ausführlich
bewiesen hat.
Wollen wir den üblichen Unterschied von Anatomen und Systematikern,
der in der zoologischen und botanischen Praxis so vielfach gebraucht wird,
festhalten, so können wir nur sagen: der „reine Systematiker“ begnügt sich
mit der oberflächlichsten Erkenntniss der Organismen und legt allen Werth
auf möglichst extensive (und möglichst wenig intensive!) Kenntniss zahl-
reicher verschiedener Formen und ihrer äusserlich unterscheidenden Charak-
tere. Er versteht wenig oder nichts von den wesentlichsten und den für
die Erkenntniss der Verwandtschaft wichtigsten (inneren) Form-Verhältnissen.
Der „reine Anatom“ dagegen legt auf letztere mit Recht den Hauptwerth,
kommt dadurch der Erkenntniss der wahren Blutsverwandtschaft der Or-
ganismen viel näher und nähert sich beim Aufbau eines Systems viel mehr
dem natürlichen Systeme, als es der eigentliche Systematiker thut, der nur
die äusseren, viel minder wichtigen Charactere benutzt. Die letzteren sind
viel unzuverlässiger, weil sie grossentheils nur durch Anpassung erworben
sind, während die inneren oder anatomischen Charactere weniger durch An-
passung verändert sind, und daher den erblichen Character des gemein-
samen Stammes in weit höherem Grade, als die äusseren Körperformen beibe-
halten haben. Dagegen verliert der exclusive reine Anatom, welcher die
Systematik vernachlässigt, dadurch den Ueberblick der unendlichen Formen-
Mannichfaltigkeit, welche durch das innere Band der Verwandtschaft zu
einem harmonischen Ganzen geordnet wird, und die Genealogie der Or-
ganismen, die Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der Stämme (Phyla)
bleibt ihm verschlossen.
Wenn bei den höheren Thieren, insbesondere bei den Wirbel-, Glie-
der- und Weichthieren der übliche Sprachgebrauch noch einigermaassen
im Stande ist, die Systematik als „Betrachtung der äusseren Körper-
form“ von der Anatomie als „Betrachtung des inneren Körperbaues“
zu unterscheiden, so ist dagegen diese Unterscheidung bei den meisten
niederen Thieren, ebenso wie bei den meisten Pflanzen, ganz unmöglich.
Bei allen rein mikroskopischen Organismen, sowie bei allen vollkommen
durchsichtigen Thieren fällt von selbst die Betrachtung des inneren und
äusseren Organismus zusammen. Hier ist eine Anatomie im eigentlichen
Sinne des Worts, eine Zergliederungskunde, in den meisten Fällen weder
nöthig, noch überhaupt nur möglich. Wo, wie bei den meisten Coelenteraten
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/80>, abgerufen am 24.11.2024.
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