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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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dings rechtfertigen. Im dritten Buche, wo wir dies näher ausführen
werden, haben wir diese Individualität als ein "genealogisches Indivi-
duum erster Ordnung" oder als "Eiproduct" bezeichnet. Die Onto-
genie könnte daher genauer auch als Entwickelungsgeschichte der
genealogischen Individuen erster Ordnung oder als Entwickelungs-
geschichte der Eiproducte
bezeichnet werden.

VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme.

Der Ontogenie oder der Entwickelungsgeschichte der Individuen
steht als zweiter coordinirter Hauptzweig der Morphogenese die Phylo-
genie oder die Entwickelungsgeschichte der Stämme (Phyla) gegen-
über. Unter einem Stamm oder Phylon verstehen wir, wie schon
bemerkt, die Summe aller derjenigen Organismen-Formen,
welche,
wie z. B. alle Wirbelthiere oder alle Coelenteraten, von
einer und derselben Stammform ihren gemeinsamen Ursprung
ableiten
. Diese Stämme lassen sich, wie wir unten im dritten
Buche zeigen werden, als "genealogische Individuen dritter Ordnung"
den "Eiproducten" oder genealogischen Individuen erster Ordnung,
welche Object der Ontogenie sind, entgegenstellen. Die wesentlichste
Grundlage der Phylogenie, welche demgemäss der Ontogenie nächst
verwandt ist, bildet die wissenschaftliche Palaeontologie.

Unter Palaeontologie versteht man gewöhnlich die Wissenschaft
von den Versteinerungen, welche auch oft mit dem barbarischen Namen
der "Petrefactologie" belegt wird. Es hat sich diese Disciplin bisher
in der grössten Abhängigkeit von der Geologie befunden, in deren
Dienste sie sich überhaupt erst entwickelt hat. Für die Geologie ist
die Petrefactenkenntniss die nothwendigste Grundlage. Denn nur
mittelst der versteinerten Reste und der in den Erdschichten zurück-
gelassenen Abdrücke der Organismen, welche unsere Erde in den ver-
schiedenen Perioden ihrer historischen Entwickelung bevölkerten, ist
die Geologie im Stande, das relative Alter der verschiedenen Schich-
tengruppen und Formationen, welche die Erdrinde bilden, zu erkennen
und daraus die Geschichte unseres Planeten selbst zu construiren. Wäh-
rend aber so die Petrefacten als "Leitmuscheln," als Denkmünzen,
welche in den verschiedenen Perioden geprägt sind, für die Geologie
vom höchsten Werthe sind, ist die historische Entwickelungsgeschichte
der Organismen, welche sich aus denselben erkennen lässt, für sie nur
von untergeordnetem Werthe. Es ist dem Geologen und Geognosten
an sich gleichgültig, welchen verwandtschaftlichen Zusammenhang die
Organismen-Arten der verschiedenen Erdperioden unter einander be-
sitzen, und welche Formenreihen auf einander gefolgt sind. Wenn
die Petrefacten das relative Alter der Schichten, in denen sie sich fin-

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dings rechtfertigen. Im dritten Buche, wo wir dies näher ausführen
werden, haben wir diese Individualität als ein „genealogisches Indivi-
duum erster Ordnung“ oder als „Eiproduct“ bezeichnet. Die Onto-
genie könnte daher genauer auch als Entwickelungsgeschichte der
genealogischen Individuen erster Ordnung oder als Entwickelungs-
geschichte der Eiproducte
bezeichnet werden.

VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme.

Der Ontogenie oder der Entwickelungsgeschichte der Individuen
steht als zweiter coordinirter Hauptzweig der Morphogenese die Phylo-
genie oder die Entwickelungsgeschichte der Stämme (Phyla) gegen-
über. Unter einem Stamm oder Phylon verstehen wir, wie schon
bemerkt, die Summe aller derjenigen Organismen-Formen,
welche,
wie z. B. alle Wirbelthiere oder alle Coelenteraten, von
einer und derselben Stammform ihren gemeinsamen Ursprung
ableiten
. Diese Stämme lassen sich, wie wir unten im dritten
Buche zeigen werden, als „genealogische Individuen dritter Ordnung“
den „Eiproducten“ oder genealogischen Individuen erster Ordnung,
welche Object der Ontogenie sind, entgegenstellen. Die wesentlichste
Grundlage der Phylogenie, welche demgemäss der Ontogenie nächst
verwandt ist, bildet die wissenschaftliche Palaeontologie.

Unter Palaeontologie versteht man gewöhnlich die Wissenschaft
von den Versteinerungen, welche auch oft mit dem barbarischen Namen
der „Petrefactologie“ belegt wird. Es hat sich diese Disciplin bisher
in der grössten Abhängigkeit von der Geologie befunden, in deren
Dienste sie sich überhaupt erst entwickelt hat. Für die Geologie ist
die Petrefactenkenntniss die nothwendigste Grundlage. Denn nur
mittelst der versteinerten Reste und der in den Erdschichten zurück-
gelassenen Abdrücke der Organismen, welche unsere Erde in den ver-
schiedenen Perioden ihrer historischen Entwickelung bevölkerten, ist
die Geologie im Stande, das relative Alter der verschiedenen Schich-
tengruppen und Formationen, welche die Erdrinde bilden, zu erkennen
und daraus die Geschichte unseres Planeten selbst zu construiren. Wäh-
rend aber so die Petrefacten als „Leitmuscheln,“ als Denkmünzen,
welche in den verschiedenen Perioden geprägt sind, für die Geologie
vom höchsten Werthe sind, ist die historische Entwickelungsgeschichte
der Organismen, welche sich aus denselben erkennen lässt, für sie nur
von untergeordnetem Werthe. Es ist dem Geologen und Geognosten
an sich gleichgültig, welchen verwandtschaftlichen Zusammenhang die
Organismen-Arten der verschiedenen Erdperioden unter einander be-
sitzen, und welche Formenreihen auf einander gefolgt sind. Wenn
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[57/0096] VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme. dings rechtfertigen. Im dritten Buche, wo wir dies näher ausführen werden, haben wir diese Individualität als ein „genealogisches Indivi- duum erster Ordnung“ oder als „Eiproduct“ bezeichnet. Die Onto- genie könnte daher genauer auch als Entwickelungsgeschichte der genealogischen Individuen erster Ordnung oder als Entwickelungs- geschichte der Eiproducte bezeichnet werden. VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme. Der Ontogenie oder der Entwickelungsgeschichte der Individuen steht als zweiter coordinirter Hauptzweig der Morphogenese die Phylo- genie oder die Entwickelungsgeschichte der Stämme (Phyla) gegen- über. Unter einem Stamm oder Phylon verstehen wir, wie schon bemerkt, die Summe aller derjenigen Organismen-Formen, welche, wie z. B. alle Wirbelthiere oder alle Coelenteraten, von einer und derselben Stammform ihren gemeinsamen Ursprung ableiten. Diese Stämme lassen sich, wie wir unten im dritten Buche zeigen werden, als „genealogische Individuen dritter Ordnung“ den „Eiproducten“ oder genealogischen Individuen erster Ordnung, welche Object der Ontogenie sind, entgegenstellen. Die wesentlichste Grundlage der Phylogenie, welche demgemäss der Ontogenie nächst verwandt ist, bildet die wissenschaftliche Palaeontologie. Unter Palaeontologie versteht man gewöhnlich die Wissenschaft von den Versteinerungen, welche auch oft mit dem barbarischen Namen der „Petrefactologie“ belegt wird. Es hat sich diese Disciplin bisher in der grössten Abhängigkeit von der Geologie befunden, in deren Dienste sie sich überhaupt erst entwickelt hat. Für die Geologie ist die Petrefactenkenntniss die nothwendigste Grundlage. Denn nur mittelst der versteinerten Reste und der in den Erdschichten zurück- gelassenen Abdrücke der Organismen, welche unsere Erde in den ver- schiedenen Perioden ihrer historischen Entwickelung bevölkerten, ist die Geologie im Stande, das relative Alter der verschiedenen Schich- tengruppen und Formationen, welche die Erdrinde bilden, zu erkennen und daraus die Geschichte unseres Planeten selbst zu construiren. Wäh- rend aber so die Petrefacten als „Leitmuscheln,“ als Denkmünzen, welche in den verschiedenen Perioden geprägt sind, für die Geologie vom höchsten Werthe sind, ist die historische Entwickelungsgeschichte der Organismen, welche sich aus denselben erkennen lässt, für sie nur von untergeordnetem Werthe. Es ist dem Geologen und Geognosten an sich gleichgültig, welchen verwandtschaftlichen Zusammenhang die Organismen-Arten der verschiedenen Erdperioden unter einander be- sitzen, und welche Formenreihen auf einander gefolgt sind. Wenn die Petrefacten das relative Alter der Schichten, in denen sie sich fin-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/96>, abgerufen am 17.05.2024.