Lamarck's Ansicht von der Anpassung und der Vererbung.
Daß Lamarck's bewunderungswürdige Geistesthat fast gar keine Anerkennung fand, liegt theils in der ungeheuren Weite des Riesenschritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vor- auseilte, theils aber auch in der mangelhaften empirischen Begrün- dung derselben, und in der oft etwas einseitigen Art seiner Beweis- führung. Als die nächsten mechanischen Ursachen, welche die bestän- dige Umbildung der organischen Formen bewirken, erkennt Lamarck ganz richtig die Verhältnisse der Anpassung an, während er die Formähnlichkeit der verschiedenen Arten, Gattungen, Familien u. s. w. mit vollem Rechte auf ihre Blutsverwandtschaft zurückführt, also durch die Vererbung erklärt. Die Anpassung besteht nach ihm da- rin, daß die beständige langsame Veränderung der Außenwelt eine entsprechende Veränderung in den Thätigkeiten und dadurch auch wei- ter in den Formen der Organismen bewirkt. Das größte Gewicht legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Allerdings ist dieser, wie Sie später sehen werden, für die Umbildung der organischen Formen von der höchsten Bedeutung. Allein in der Weise, wie Lamarck hieraus al- lein oder doch vorwiegend die Veränderung der Formen erklären woll- te, ist das meistens doch nicht möglich. Er sagt z. B., daß der lange Hals der Giraffe entstanden sei durch das beständige Hinaufrecken des Halses nach hohen Bäumen, und das Bestreben, die Blätter von de- ren Aesten zu pflücken; da die Giraffe meistens in trockenen Gegenden lebt, wo nur das Laub der Bäume ihr Nahrung gewährt, war sie zu dieser Thätigkeit gezwungen. Ebenso sind die langen Zungen der Spechte, Colibris und Ameisenfresser durch die Gewohnheit entstan- den, ihre Nahrung aus engen, schmalen und tiefen Spalten oder Ka- nälen herauszuholen. Die Schwimmhäute zwischen den Zehen der Schwimmfüße bei Fröschen und anderen Wasserthieren sind lediglich durch das fortwährende Bemühen zu schwimmen, durch das Schla- gen der Füße in das Wasser, durch die Schwimmbewegungen selbst entstanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden diese Gewohnheiten befestigt und durch weitere Ausbildung derselben schließ-
Lamarck’s Anſicht von der Anpaſſung und der Vererbung.
Daß Lamarck’s bewunderungswuͤrdige Geiſtesthat faſt gar keine Anerkennung fand, liegt theils in der ungeheuren Weite des Rieſenſchritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vor- auseilte, theils aber auch in der mangelhaften empiriſchen Begruͤn- dung derſelben, und in der oft etwas einſeitigen Art ſeiner Beweis- fuͤhrung. Als die naͤchſten mechaniſchen Urſachen, welche die beſtaͤn- dige Umbildung der organiſchen Formen bewirken, erkennt Lamarck ganz richtig die Verhaͤltniſſe der Anpaſſung an, waͤhrend er die Formaͤhnlichkeit der verſchiedenen Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. mit vollem Rechte auf ihre Blutsverwandtſchaft zuruͤckfuͤhrt, alſo durch die Vererbung erklaͤrt. Die Anpaſſung beſteht nach ihm da- rin, daß die beſtaͤndige langſame Veraͤnderung der Außenwelt eine entſprechende Veraͤnderung in den Thaͤtigkeiten und dadurch auch wei- ter in den Formen der Organismen bewirkt. Das groͤßte Gewicht legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Allerdings iſt dieſer, wie Sie ſpaͤter ſehen werden, fuͤr die Umbildung der organiſchen Formen von der hoͤchſten Bedeutung. Allein in der Weiſe, wie Lamarck hieraus al- lein oder doch vorwiegend die Veraͤnderung der Formen erklaͤren woll- te, iſt das meiſtens doch nicht moͤglich. Er ſagt z. B., daß der lange Hals der Giraffe entſtanden ſei durch das beſtaͤndige Hinaufrecken des Halſes nach hohen Baͤumen, und das Beſtreben, die Blaͤtter von de- ren Aeſten zu pfluͤcken; da die Giraffe meiſtens in trockenen Gegenden lebt, wo nur das Laub der Baͤume ihr Nahrung gewaͤhrt, war ſie zu dieſer Thaͤtigkeit gezwungen. Ebenſo ſind die langen Zungen der Spechte, Colibris und Ameiſenfreſſer durch die Gewohnheit entſtan- den, ihre Nahrung aus engen, ſchmalen und tiefen Spalten oder Ka- naͤlen herauszuholen. Die Schwimmhaͤute zwiſchen den Zehen der Schwimmfuͤße bei Froͤſchen und anderen Waſſerthieren ſind lediglich durch das fortwaͤhrende Bemuͤhen zu ſchwimmen, durch das Schla- gen der Fuͤße in das Waſſer, durch die Schwimmbewegungen ſelbſt entſtanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden dieſe Gewohnheiten befeſtigt und durch weitere Ausbildung derſelben ſchließ-
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Lamarck’s Anſicht von der Anpaſſung und der Vererbung.
Daß Lamarck’s bewunderungswuͤrdige Geiſtesthat faſt gar
keine Anerkennung fand, liegt theils in der ungeheuren Weite des
Rieſenſchritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vor-
auseilte, theils aber auch in der mangelhaften empiriſchen Begruͤn-
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fuͤhrung. Als die naͤchſten mechaniſchen Urſachen, welche die beſtaͤn-
dige Umbildung der organiſchen Formen bewirken, erkennt Lamarck
ganz richtig die Verhaͤltniſſe der Anpaſſung an, waͤhrend er die
Formaͤhnlichkeit der verſchiedenen Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w.
mit vollem Rechte auf ihre Blutsverwandtſchaft zuruͤckfuͤhrt, alſo
durch die Vererbung erklaͤrt. Die Anpaſſung beſteht nach ihm da-
rin, daß die beſtaͤndige langſame Veraͤnderung der Außenwelt eine
entſprechende Veraͤnderung in den Thaͤtigkeiten und dadurch auch wei-
ter in den Formen der Organismen bewirkt. Das groͤßte Gewicht
legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch
und Nichtgebrauch der Organe. Allerdings iſt dieſer, wie Sie ſpaͤter
ſehen werden, fuͤr die Umbildung der organiſchen Formen von der
hoͤchſten Bedeutung. Allein in der Weiſe, wie Lamarck hieraus al-
lein oder doch vorwiegend die Veraͤnderung der Formen erklaͤren woll-
te, iſt das meiſtens doch nicht moͤglich. Er ſagt z. B., daß der lange
Hals der Giraffe entſtanden ſei durch das beſtaͤndige Hinaufrecken des
Halſes nach hohen Baͤumen, und das Beſtreben, die Blaͤtter von de-
ren Aeſten zu pfluͤcken; da die Giraffe meiſtens in trockenen Gegenden
lebt, wo nur das Laub der Baͤume ihr Nahrung gewaͤhrt, war ſie
zu dieſer Thaͤtigkeit gezwungen. Ebenſo ſind die langen Zungen der
Spechte, Colibris und Ameiſenfreſſer durch die Gewohnheit entſtan-
den, ihre Nahrung aus engen, ſchmalen und tiefen Spalten oder Ka-
naͤlen herauszuholen. Die Schwimmhaͤute zwiſchen den Zehen der
Schwimmfuͤße bei Froͤſchen und anderen Waſſerthieren ſind lediglich
durch das fortwaͤhrende Bemuͤhen zu ſchwimmen, durch das Schla-
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entſtanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden dieſe
Gewohnheiten befeſtigt und durch weitere Ausbildung derſelben ſchließ-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/113>, abgerufen am 21.11.2024.
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