Darwin's Studium der Hausthiere und Culturpflanzen.
durch diese weiteren Ausführungen die Selectionstheorie eigentlich erst fest begründet werden müsse. Nach unserer Ansicht enthält bereits Darwin's erstes, 1859 erschienenes Werk, diese Begründung in völlig ausreichendem Maaße. Die unangreifbare Stärke seiner The- orie liegt nicht in der Unmasse von einzelnen Thatsachen, welche man als Beweis dafür anführen kann, sondern in dem harmonischen Zu- sammenhang aller großen und allgemeinen Erscheinungsreihen der or- ganischen Natur, welche übereinstimmend für die Wahrheit der Selec- tionstheorie Zeugniß ablegen.
Von der größten Bedeutung für die Begründung der Selections- theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus- thieren und Culturpflanzen widmete. Die unendlich tiefen und mannichfaltigen Formveränderungen, welche der Mensch an diesen do- mesticirten Organismen durch künstliche Züchtung erzeugt hat, sind für das richtige Verständniß der Thier- und Pflanzenformen von der aller- größten Wichtigkeit; und dennoch ist in kaum glaublicher Weise dieses Studium von den Zoologen und Botanikern bis in die neueste Zeit in der gröbsten Weise vernachlässigt worden. Es sind nicht allein dicke Bände, sondern ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden mit den unnützesten Beschreibungen der einzelnen Arten oder Species, angefüllt mit höchst kindischen Streitigkeiten darüber, ob diese Species gute oder ziemlich gute, schlechte oder ziemlich schlechte Arten seien, ohne daß dem Artbegriff selbst darin zu Leibe gegangen ist. Wenn die Natur- forscher, statt auf diese ganz unnützen Spielereien ihre Zeit zu verwen- den, die Culturorganismen gehörig studirt und nicht die einzelnen todten Formen sondern die Umbildung der lebendigen Gestalten in das Auge gefaßt hätten, so würde man nicht so lange in den Fesseln des Cuvier'schen Dogmas befangen gewesen sein. Weil nun aber diese Culturorganismen gerade der dogmatischen Auffassung von der Beharrlichkeit der Art, von der Constanz der Species so äußerst unbe- quem sind, so hat man sich großen Theils absichtlich nicht um dieselben bekümmert und es ist sogar vielfach, selbst von berühmten Naturforschern der Gedanke ausgesprochen worden, diese Culturorganismen, die Haus-
Darwin’s Studium der Hausthiere und Culturpflanzen.
durch dieſe weiteren Ausfuͤhrungen die Selectionstheorie eigentlich erſt feſt begruͤndet werden muͤſſe. Nach unſerer Anſicht enthaͤlt bereits Darwin’s erſtes, 1859 erſchienenes Werk, dieſe Begruͤndung in voͤllig ausreichendem Maaße. Die unangreifbare Staͤrke ſeiner The- orie liegt nicht in der Unmaſſe von einzelnen Thatſachen, welche man als Beweis dafuͤr anfuͤhren kann, ſondern in dem harmoniſchen Zu- ſammenhang aller großen und allgemeinen Erſcheinungsreihen der or- ganiſchen Natur, welche uͤbereinſtimmend fuͤr die Wahrheit der Selec- tionstheorie Zeugniß ablegen.
Von der groͤßten Bedeutung fuͤr die Begruͤndung der Selections- theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus- thieren und Culturpflanzen widmete. Die unendlich tiefen und mannichfaltigen Formveraͤnderungen, welche der Menſch an dieſen do- meſticirten Organismen durch kuͤnſtliche Zuͤchtung erzeugt hat, ſind fuͤr das richtige Verſtaͤndniß der Thier- und Pflanzenformen von der aller- groͤßten Wichtigkeit; und dennoch iſt in kaum glaublicher Weiſe dieſes Studium von den Zoologen und Botanikern bis in die neueſte Zeit in der groͤbſten Weiſe vernachlaͤſſigt worden. Es ſind nicht allein dicke Baͤnde, ſondern ganze Bibliotheken vollgeſchrieben worden mit den unnuͤtzeſten Beſchreibungen der einzelnen Arten oder Species, angefuͤllt mit hoͤchſt kindiſchen Streitigkeiten daruͤber, ob dieſe Species gute oder ziemlich gute, ſchlechte oder ziemlich ſchlechte Arten ſeien, ohne daß dem Artbegriff ſelbſt darin zu Leibe gegangen iſt. Wenn die Natur- forſcher, ſtatt auf dieſe ganz unnuͤtzen Spielereien ihre Zeit zu verwen- den, die Culturorganismen gehoͤrig ſtudirt und nicht die einzelnen todten Formen ſondern die Umbildung der lebendigen Geſtalten in das Auge gefaßt haͤtten, ſo wuͤrde man nicht ſo lange in den Feſſeln des Cuvier’ſchen Dogmas befangen geweſen ſein. Weil nun aber dieſe Culturorganismen gerade der dogmatiſchen Auffaſſung von der Beharrlichkeit der Art, von der Conſtanz der Species ſo aͤußerſt unbe- quem ſind, ſo hat man ſich großen Theils abſichtlich nicht um dieſelben bekuͤmmert und es iſt ſogar vielfach, ſelbſt von beruͤhmten Naturforſchern der Gedanke ausgeſprochen worden, dieſe Culturorganismen, die Haus-
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Darwin’s Studium der Hausthiere und Culturpflanzen.
durch dieſe weiteren Ausfuͤhrungen die Selectionstheorie eigentlich erſt
feſt begruͤndet werden muͤſſe. Nach unſerer Anſicht enthaͤlt bereits
Darwin’s erſtes, 1859 erſchienenes Werk, dieſe Begruͤndung in
voͤllig ausreichendem Maaße. Die unangreifbare Staͤrke ſeiner The-
orie liegt nicht in der Unmaſſe von einzelnen Thatſachen, welche man
als Beweis dafuͤr anfuͤhren kann, ſondern in dem harmoniſchen Zu-
ſammenhang aller großen und allgemeinen Erſcheinungsreihen der or-
ganiſchen Natur, welche uͤbereinſtimmend fuͤr die Wahrheit der Selec-
tionstheorie Zeugniß ablegen.
Von der groͤßten Bedeutung fuͤr die Begruͤndung der Selections-
theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus-
thieren und Culturpflanzen widmete. Die unendlich tiefen und
mannichfaltigen Formveraͤnderungen, welche der Menſch an dieſen do-
meſticirten Organismen durch kuͤnſtliche Zuͤchtung erzeugt hat, ſind fuͤr
das richtige Verſtaͤndniß der Thier- und Pflanzenformen von der aller-
groͤßten Wichtigkeit; und dennoch iſt in kaum glaublicher Weiſe dieſes
Studium von den Zoologen und Botanikern bis in die neueſte Zeit
in der groͤbſten Weiſe vernachlaͤſſigt worden. Es ſind nicht allein dicke
Baͤnde, ſondern ganze Bibliotheken vollgeſchrieben worden mit den
unnuͤtzeſten Beſchreibungen der einzelnen Arten oder Species, angefuͤllt
mit hoͤchſt kindiſchen Streitigkeiten daruͤber, ob dieſe Species gute oder
ziemlich gute, ſchlechte oder ziemlich ſchlechte Arten ſeien, ohne daß
dem Artbegriff ſelbſt darin zu Leibe gegangen iſt. Wenn die Natur-
forſcher, ſtatt auf dieſe ganz unnuͤtzen Spielereien ihre Zeit zu verwen-
den, die Culturorganismen gehoͤrig ſtudirt und nicht die einzelnen
todten Formen ſondern die Umbildung der lebendigen Geſtalten in
das Auge gefaßt haͤtten, ſo wuͤrde man nicht ſo lange in den Feſſeln
des Cuvier’ſchen Dogmas befangen geweſen ſein. Weil nun aber
dieſe Culturorganismen gerade der dogmatiſchen Auffaſſung von der
Beharrlichkeit der Art, von der Conſtanz der Species ſo aͤußerſt unbe-
quem ſind, ſo hat man ſich großen Theils abſichtlich nicht um dieſelben
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/131>, abgerufen am 24.11.2024.
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