Parallelismus der drei organischen Entwickelungsreihen.
und interessante Erscheinung zu erklären, die man kurz als den Par- allelismus der individuellen, der paläontologischen und der systematischen Entwickelung, des betreffenden Fortschrittes und der betreffenden Differenzirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Descendenztheorie ist im Stande gewesen, für diese höchst wunderbare Thatsache eine Erklärung zu liefern, wäh- rend sie sich nach der Descendenztheorie aus den Gesetzen der Verer- erbung und Anpassung vollkommen erklärt.
Wenn Sie diesen Parallelismus der drei organischen Entwicke- lungsreihen schärfer in's Auge fassen, so müssen Sie noch folgende nähere Bestimmung hinzufügen. Die Ontogenie oder die indivi- duelle Entwickelungsgeschichte jedes Organismus (Embryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiter- förmige Kette von Formen; und ebenso derjenige Theil der Phy- logenie, welcher die paläontologische Entwickelungsgeschichte der directen Vorfahren jenes individuellen Organismus enthält. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem na- türlichen System jedes organischen Stammes oder Phylum ent- gegentritt, und welche die paläontologische Entwickelung aller Zweige dieses Stammes untersucht, eine verzweigte oder baumförmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Untersuchen Sie vergleichend die entwickelten Zweige dieses Stammbaums und stellen Sie dieselben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkomm- nung zusammen, so erhalten Sie die baumförmig verzweigte syste- matische Entwickelungsreihe der vergleichenden Anatomie. Genau genommen ist also diese letztere der ganzen Phylogenie par- allel und kann mithin nur theilweise der Ontogenie parallel sein; denn die Ontogenie selbst ist nur einem Theile der Phylogenie parallel.
Alle im Vorhergehenden erläuterten Erscheinungen der organi- schen Entwickelung, insbesondere dieser dreifache genealogische Par- allelismus, und die Differenzirungs- und Fortschrittsgesetze, welche in jeder dieser drei organischen Entwickelungsreihen sichtbar sind, so-
Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 17
Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen.
und intereſſante Erſcheinung zu erklaͤren, die man kurz als den Par- allelismus der individuellen, der palaͤontologiſchen und der ſyſtematiſchen Entwickelung, des betreffenden Fortſchrittes und der betreffenden Differenzirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Deſcendenztheorie iſt im Stande geweſen, fuͤr dieſe hoͤchſt wunderbare Thatſache eine Erklaͤrung zu liefern, waͤh- rend ſie ſich nach der Deſcendenztheorie aus den Geſetzen der Verer- erbung und Anpaſſung vollkommen erklaͤrt.
Wenn Sie dieſen Parallelismus der drei organiſchen Entwicke- lungsreihen ſchaͤrfer in’s Auge faſſen, ſo muͤſſen Sie noch folgende naͤhere Beſtimmung hinzufuͤgen. Die Ontogenie oder die indivi- duelle Entwickelungsgeſchichte jedes Organismus (Embryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiter- foͤrmige Kette von Formen; und ebenſo derjenige Theil der Phy- logenie, welcher die palaͤontologiſche Entwickelungsgeſchichte der directen Vorfahren jenes individuellen Organismus enthaͤlt. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem na- tuͤrlichen Syſtem jedes organiſchen Stammes oder Phylum ent- gegentritt, und welche die palaͤontologiſche Entwickelung aller Zweige dieſes Stammes unterſucht, eine verzweigte oder baumfoͤrmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Unterſuchen Sie vergleichend die entwickelten Zweige dieſes Stammbaums und ſtellen Sie dieſelben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkomm- nung zuſammen, ſo erhalten Sie die baumfoͤrmig verzweigte ſyſte- matiſche Entwickelungsreihe der vergleichenden Anatomie. Genau genommen iſt alſo dieſe letztere der ganzen Phylogenie par- allel und kann mithin nur theilweiſe der Ontogenie parallel ſein; denn die Ontogenie ſelbſt iſt nur einem Theile der Phylogenie parallel.
Alle im Vorhergehenden erlaͤuterten Erſcheinungen der organi- ſchen Entwickelung, insbeſondere dieſer dreifache genealogiſche Par- allelismus, und die Differenzirungs- und Fortſchrittsgeſetze, welche in jeder dieſer drei organiſchen Entwickelungsreihen ſichtbar ſind, ſo-
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 17
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Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen.
und intereſſante Erſcheinung zu erklaͤren, die man kurz als den Par-
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fuͤr dieſe hoͤchſt wunderbare Thatſache eine Erklaͤrung zu liefern, waͤh-
rend ſie ſich nach der Deſcendenztheorie aus den Geſetzen der Verer-
erbung und Anpaſſung vollkommen erklaͤrt.
Wenn Sie dieſen Parallelismus der drei organiſchen Entwicke-
lungsreihen ſchaͤrfer in’s Auge faſſen, ſo muͤſſen Sie noch folgende
naͤhere Beſtimmung hinzufuͤgen. Die Ontogenie oder die indivi-
duelle Entwickelungsgeſchichte jedes Organismus (Embryologie und
Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiter-
foͤrmige Kette von Formen; und ebenſo derjenige Theil der Phy-
logenie, welcher die palaͤontologiſche Entwickelungsgeſchichte der
directen Vorfahren jenes individuellen Organismus enthaͤlt.
Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem na-
tuͤrlichen Syſtem jedes organiſchen Stammes oder Phylum ent-
gegentritt, und welche die palaͤontologiſche Entwickelung aller Zweige
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Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Unterſuchen Sie
vergleichend die entwickelten Zweige dieſes Stammbaums und ſtellen
Sie dieſelben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkomm-
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matiſche Entwickelungsreihe der vergleichenden Anatomie.
Genau genommen iſt alſo dieſe letztere der ganzen Phylogenie par-
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denn die Ontogenie ſelbſt iſt nur einem Theile der Phylogenie
parallel.
Alle im Vorhergehenden erlaͤuterten Erſcheinungen der organi-
ſchen Entwickelung, insbeſondere dieſer dreifache genealogiſche Par-
allelismus, und die Differenzirungs- und Fortſchrittsgeſetze, welche
in jeder dieſer drei organiſchen Entwickelungsreihen ſichtbar ſind, ſo-
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 17
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/282>, abgerufen am 24.11.2024.
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