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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Aeußerer uud innerer Bildungstrieb der Organismen und Anorgane.
wirkt eine zweite formbildende Kraft geradezu entgegen. Diese äu-
ßere Gestaltungskraft
oder den äußeren Bildungstrieb können
wir bei den Krystallen ebenso gut wie bei den Organismen als An-
passung
bezeichnen. Jedes Krystallindividuum muß sich während
seiner Entstehung ganz ebenso wie jedes organische Jndividuum den
umgebenden Einflüssen und Existenzbedingungen der Außenwelt unter-
werfen und anpassen. Jn der That ist die Form und Größe eines
jeden Krystalles abhängig von seiner gesammten Umgebung, z. B. von
dem Gefäß, in welchem die Krystallisation stattfindet, von der Tem-
peratur und von dem Luftdruck, unter welchem der Krystall sich
bildet, von der Anwesenheit oder Abwesenheit ungleichartiger Körper
u. s. w. Die Form jedes einzelnen Krystalles ist daher ebenso wie
die Form jedes einzelnen Organismus das Resultat der Gegenwir-
kung zweier einander gegenüber stehender Factoren, des inneren
Bildungstriebes, der durch die chemische Constitution der eigenen
Materie gegeben ist, und des äußeren Bildungstriebes, welcher
durch die Einwirkung der umgebenden Materie bedingt ist. Beide
in Wechselwirkung stehende Gestaltungskräfte sind im Organismus
ebenso wie im Krystall rein mechanischer Natur, unmittelbar an dem
Stoffe des Körpers haftend. Wenn man das Wachsthum und die
Gestaltung der Organismen als einen Lebensprozeß bezeichnet, so
kann man dasselbe eben so gut von dem sich bildenden Krystall be-
haupten. Die teleologische Naturbetrachtung, welche in den organi-
schen Formen zweckmäßig eingerichtete Schöpfungsmaschinen erblickt,
muß folgerichtiger Weise dieselben auch in den Krystallformen aner-
kennen. Die Unterschiede, welche sich zwischen den einfachsten orga-
nischen Jndividuen und den anorganischen Krystallen vorfinden, sind
durch den festen Aggregatzustand der letzteren, durch den festflüs-
sigen
Zustand der ersteren bedingt. Jm Uebrigen sind die bewirkenden
Ursachen der Form in beiden vollständig dieselben. Ganz besonders
klar drängt sich Jhnen diese Ueberzeugung auf, wenn Sie die höchst
merkwürdigen Erscheinungen von dem Wachsthum, der Anpassung
und der "Wechselbeziehung oder Correlation der Theile" bei den ent-

Aeußerer uud innerer Bildungstrieb der Organismen und Anorgane.
wirkt eine zweite formbildende Kraft geradezu entgegen. Dieſe aͤu-
ßere Geſtaltungskraft
oder den aͤußeren Bildungstrieb koͤnnen
wir bei den Kryſtallen ebenſo gut wie bei den Organismen als An-
paſſung
bezeichnen. Jedes Kryſtallindividuum muß ſich waͤhrend
ſeiner Entſtehung ganz ebenſo wie jedes organiſche Jndividuum den
umgebenden Einfluͤſſen und Exiſtenzbedingungen der Außenwelt unter-
werfen und anpaſſen. Jn der That iſt die Form und Groͤße eines
jeden Kryſtalles abhaͤngig von ſeiner geſammten Umgebung, z. B. von
dem Gefaͤß, in welchem die Kryſtalliſation ſtattfindet, von der Tem-
peratur und von dem Luftdruck, unter welchem der Kryſtall ſich
bildet, von der Anweſenheit oder Abweſenheit ungleichartiger Koͤrper
u. ſ. w. Die Form jedes einzelnen Kryſtalles iſt daher ebenſo wie
die Form jedes einzelnen Organismus das Reſultat der Gegenwir-
kung zweier einander gegenuͤber ſtehender Factoren, des inneren
Bildungstriebes, der durch die chemiſche Conſtitution der eigenen
Materie gegeben iſt, und des aͤußeren Bildungstriebes, welcher
durch die Einwirkung der umgebenden Materie bedingt iſt. Beide
in Wechſelwirkung ſtehende Geſtaltungskraͤfte ſind im Organismus
ebenſo wie im Kryſtall rein mechaniſcher Natur, unmittelbar an dem
Stoffe des Koͤrpers haftend. Wenn man das Wachsthum und die
Geſtaltung der Organismen als einen Lebensprozeß bezeichnet, ſo
kann man daſſelbe eben ſo gut von dem ſich bildenden Kryſtall be-
haupten. Die teleologiſche Naturbetrachtung, welche in den organi-
ſchen Formen zweckmaͤßig eingerichtete Schoͤpfungsmaſchinen erblickt,
muß folgerichtiger Weiſe dieſelben auch in den Kryſtallformen aner-
kennen. Die Unterſchiede, welche ſich zwiſchen den einfachſten orga-
niſchen Jndividuen und den anorganiſchen Kryſtallen vorfinden, ſind
durch den feſten Aggregatzuſtand der letzteren, durch den feſtfluͤſ-
ſigen
Zuſtand der erſteren bedingt. Jm Uebrigen ſind die bewirkenden
Urſachen der Form in beiden vollſtaͤndig dieſelben. Ganz beſonders
klar draͤngt ſich Jhnen dieſe Ueberzeugung auf, wenn Sie die hoͤchſt
merkwuͤrdigen Erſcheinungen von dem Wachsthum, der Anpaſſung
und der „Wechſelbeziehung oder Correlation der Theile“ bei den ent-

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[278/0303] Aeußerer uud innerer Bildungstrieb der Organismen und Anorgane. wirkt eine zweite formbildende Kraft geradezu entgegen. Dieſe aͤu- ßere Geſtaltungskraft oder den aͤußeren Bildungstrieb koͤnnen wir bei den Kryſtallen ebenſo gut wie bei den Organismen als An- paſſung bezeichnen. Jedes Kryſtallindividuum muß ſich waͤhrend ſeiner Entſtehung ganz ebenſo wie jedes organiſche Jndividuum den umgebenden Einfluͤſſen und Exiſtenzbedingungen der Außenwelt unter- werfen und anpaſſen. Jn der That iſt die Form und Groͤße eines jeden Kryſtalles abhaͤngig von ſeiner geſammten Umgebung, z. B. von dem Gefaͤß, in welchem die Kryſtalliſation ſtattfindet, von der Tem- peratur und von dem Luftdruck, unter welchem der Kryſtall ſich bildet, von der Anweſenheit oder Abweſenheit ungleichartiger Koͤrper u. ſ. w. Die Form jedes einzelnen Kryſtalles iſt daher ebenſo wie die Form jedes einzelnen Organismus das Reſultat der Gegenwir- kung zweier einander gegenuͤber ſtehender Factoren, des inneren Bildungstriebes, der durch die chemiſche Conſtitution der eigenen Materie gegeben iſt, und des aͤußeren Bildungstriebes, welcher durch die Einwirkung der umgebenden Materie bedingt iſt. Beide in Wechſelwirkung ſtehende Geſtaltungskraͤfte ſind im Organismus ebenſo wie im Kryſtall rein mechaniſcher Natur, unmittelbar an dem Stoffe des Koͤrpers haftend. Wenn man das Wachsthum und die Geſtaltung der Organismen als einen Lebensprozeß bezeichnet, ſo kann man daſſelbe eben ſo gut von dem ſich bildenden Kryſtall be- haupten. Die teleologiſche Naturbetrachtung, welche in den organi- ſchen Formen zweckmaͤßig eingerichtete Schoͤpfungsmaſchinen erblickt, muß folgerichtiger Weiſe dieſelben auch in den Kryſtallformen aner- kennen. Die Unterſchiede, welche ſich zwiſchen den einfachſten orga- niſchen Jndividuen und den anorganiſchen Kryſtallen vorfinden, ſind durch den feſten Aggregatzuſtand der letzteren, durch den feſtfluͤſ- ſigen Zuſtand der erſteren bedingt. Jm Uebrigen ſind die bewirkenden Urſachen der Form in beiden vollſtaͤndig dieſelben. Ganz beſonders klar draͤngt ſich Jhnen dieſe Ueberzeugung auf, wenn Sie die hoͤchſt merkwuͤrdigen Erſcheinungen von dem Wachsthum, der Anpaſſung und der „Wechſelbeziehung oder Correlation der Theile“ bei den ent-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/303>, abgerufen am 15.06.2024.