Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Rudimentäre oder unzweckmäßige Organe.
gewöhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer
zweckmäßig bauenden Schöpferkraft sei. Nichts hat in dieser Bezie-
hung der früheren Naturforschung so große Schwierigkeiten verursacht,
als die Deutung der sogenannten "rudimentären Organe", derje-
nigen Theile im Thier- und Pflanzenkörper, welche eigentlich ohne Lei-
stung, ohne physiologische Bedeutung, und dennoch formell vorhanden
sind. Diese Theile erregen das allerhöchste Jnteresse, obwohl sie den mei-
sten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt sind. Fast jeder Organismus,
fast jedes Thier und jede Pflanze, besitzt neben den scheinbar äußerst
zweckmäßigen Einrichtungen seiner Gesammtorganisation, eine Reihe
von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzusehen ist.

Beispiele davon finden sich überall. Bei den Embryonen mancher
Wiederkäuer, unter Andern bei unserm gewöhnlichen Rindvieh, ste-
hen Schneidezähne im Zwischenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie-
mals zum Durchbruch gelangen, also auch keinen Zweck haben. Die
Embryonen mancher Wallfische, welche späterhin die bekannten Bar-
ten statt der Zähne besitzen, tragen, so lange sie noch nicht geboren sind
und keine Nahrung zu sich nehmen, dennoch Zähne in ihrem Kiefer;
auch dieses Gebiß tritt niemals in Thätigkeit. Ferner besitzen die
meisten höheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen;
selbst der Mensch besitzt solche rudimentäre Muskeln. Die Meisten
von uns sind nicht fähig, ihre Ohren willkürlich zu bewegen, obwohl
die Muskeln für diese Bewegung vorhanden sind, und obwohl es ein-
zelnen Personen, die sich andauernd Mühe geben, diese Muskeln zu
üben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn diesen noch jetzt
vorhandenen, aber verkümmerten Organen, welche dem vollständigen
Verschwinden entgegen gehen, ist es noch möglich, durch besondere
Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthätigkeit des Nerven-
systems, die beinah erloschene Thätigkeit wieder zu beleben. Auch noch
an anderen Stellen seines Körpers besitzt der Mensch solche rudimen-
täre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung für das Leben
sind und niemals funktioniren.

Zu den schlagendsten Beispielen von rudimentären Organen gehö-

Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
gewoͤhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer
zweckmaͤßig bauenden Schoͤpferkraft ſei. Nichts hat in dieſer Bezie-
hung der fruͤheren Naturforſchung ſo große Schwierigkeiten verurſacht,
als die Deutung der ſogenannten „rudimentaͤren Organe“, derje-
nigen Theile im Thier- und Pflanzenkoͤrper, welche eigentlich ohne Lei-
ſtung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vorhanden
ſind. Dieſe Theile erregen das allerhoͤchſte Jntereſſe, obwohl ſie den mei-
ſten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt ſind. Faſt jeder Organismus,
faſt jedes Thier und jede Pflanze, beſitzt neben den ſcheinbar aͤußerſt
zweckmaͤßigen Einrichtungen ſeiner Geſammtorganiſation, eine Reihe
von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzuſehen iſt.

Beiſpiele davon finden ſich uͤberall. Bei den Embryonen mancher
Wiederkaͤuer, unter Andern bei unſerm gewoͤhnlichen Rindvieh, ſte-
hen Schneidezaͤhne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie-
mals zum Durchbruch gelangen, alſo auch keinen Zweck haben. Die
Embryonen mancher Wallfiſche, welche ſpaͤterhin die bekannten Bar-
ten ſtatt der Zaͤhne beſitzen, tragen, ſo lange ſie noch nicht geboren ſind
und keine Nahrung zu ſich nehmen, dennoch Zaͤhne in ihrem Kiefer;
auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thaͤtigkeit. Ferner beſitzen die
meiſten hoͤheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen;
ſelbſt der Menſch beſitzt ſolche rudimentaͤre Muskeln. Die Meiſten
von uns ſind nicht faͤhig, ihre Ohren willkuͤrlich zu bewegen, obwohl
die Muskeln fuͤr dieſe Bewegung vorhanden ſind, und obwohl es ein-
zelnen Perſonen, die ſich andauernd Muͤhe geben, dieſe Muskeln zu
uͤben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn dieſen noch jetzt
vorhandenen, aber verkuͤmmerten Organen, welche dem vollſtaͤndigen
Verſchwinden entgegen gehen, iſt es noch moͤglich, durch beſondere
Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthaͤtigkeit des Nerven-
ſyſtems, die beinah erloſchene Thaͤtigkeit wieder zu beleben. Auch noch
an anderen Stellen ſeines Koͤrpers beſitzt der Menſch ſolche rudimen-
taͤre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung fuͤr das Leben
ſind und niemals funktioniren.

Zu den ſchlagendſten Beiſpielen von rudimentaͤren Organen gehoͤ-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0031" n="10"/><fw place="top" type="header">Rudimenta&#x0364;re oder unzweckma&#x0364;ßige Organe.</fw><lb/>
gewo&#x0364;hnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer<lb/>
zweckma&#x0364;ßig bauenden Scho&#x0364;pferkraft &#x017F;ei. Nichts hat in die&#x017F;er Bezie-<lb/>
hung der fru&#x0364;heren Naturfor&#x017F;chung &#x017F;o große Schwierigkeiten verur&#x017F;acht,<lb/>
als die Deutung der &#x017F;ogenannten &#x201E;<hi rendition="#g">rudimenta&#x0364;ren Organe</hi>&#x201C;, derje-<lb/>
nigen Theile im Thier- und Pflanzenko&#x0364;rper, welche eigentlich ohne Lei-<lb/>
&#x017F;tung, ohne phy&#x017F;iologi&#x017F;che Bedeutung, und dennoch formell vorhanden<lb/>
&#x017F;ind. Die&#x017F;e Theile erregen das allerho&#x0364;ch&#x017F;te Jntere&#x017F;&#x017F;e, obwohl &#x017F;ie den mei-<lb/>
&#x017F;ten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt &#x017F;ind. Fa&#x017F;t jeder Organismus,<lb/>
fa&#x017F;t jedes Thier und jede Pflanze, be&#x017F;itzt neben den &#x017F;cheinbar a&#x0364;ußer&#x017F;t<lb/>
zweckma&#x0364;ßigen Einrichtungen &#x017F;einer Ge&#x017F;ammtorgani&#x017F;ation, eine Reihe<lb/>
von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzu&#x017F;ehen i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Bei&#x017F;piele davon finden &#x017F;ich u&#x0364;berall. Bei den Embryonen mancher<lb/>
Wiederka&#x0364;uer, unter Andern bei un&#x017F;erm gewo&#x0364;hnlichen Rindvieh, &#x017F;te-<lb/>
hen Schneideza&#x0364;hne im Zwi&#x017F;chenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie-<lb/>
mals zum Durchbruch gelangen, al&#x017F;o auch keinen Zweck haben. Die<lb/>
Embryonen mancher Wallfi&#x017F;che, welche &#x017F;pa&#x0364;terhin die bekannten Bar-<lb/>
ten &#x017F;tatt der Za&#x0364;hne be&#x017F;itzen, tragen, &#x017F;o lange &#x017F;ie noch nicht geboren &#x017F;ind<lb/>
und keine Nahrung zu &#x017F;ich nehmen, dennoch Za&#x0364;hne in ihrem Kiefer;<lb/>
auch die&#x017F;es Gebiß tritt niemals in Tha&#x0364;tigkeit. Ferner be&#x017F;itzen die<lb/>
mei&#x017F;ten ho&#x0364;heren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen;<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t der Men&#x017F;ch be&#x017F;itzt &#x017F;olche rudimenta&#x0364;re Muskeln. Die Mei&#x017F;ten<lb/>
von uns &#x017F;ind nicht fa&#x0364;hig, ihre Ohren willku&#x0364;rlich zu bewegen, obwohl<lb/>
die Muskeln fu&#x0364;r die&#x017F;e Bewegung vorhanden &#x017F;ind, und obwohl es ein-<lb/>
zelnen Per&#x017F;onen, die &#x017F;ich andauernd Mu&#x0364;he geben, die&#x017F;e Muskeln zu<lb/>
u&#x0364;ben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn die&#x017F;en noch jetzt<lb/>
vorhandenen, aber verku&#x0364;mmerten Organen, welche dem voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
Ver&#x017F;chwinden entgegen gehen, i&#x017F;t es noch mo&#x0364;glich, durch be&#x017F;ondere<lb/>
Uebung, durch andauernden Einfluß der Willenstha&#x0364;tigkeit des Nerven-<lb/>
&#x017F;y&#x017F;tems, die beinah erlo&#x017F;chene Tha&#x0364;tigkeit wieder zu beleben. Auch noch<lb/>
an anderen Stellen &#x017F;eines Ko&#x0364;rpers be&#x017F;itzt der Men&#x017F;ch &#x017F;olche rudimen-<lb/>
ta&#x0364;re Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung fu&#x0364;r das Leben<lb/>
&#x017F;ind und niemals funktioniren.</p><lb/>
        <p>Zu den &#x017F;chlagend&#x017F;ten Bei&#x017F;pielen von rudimenta&#x0364;ren Organen geho&#x0364;-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0031] Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe. gewoͤhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer zweckmaͤßig bauenden Schoͤpferkraft ſei. Nichts hat in dieſer Bezie- hung der fruͤheren Naturforſchung ſo große Schwierigkeiten verurſacht, als die Deutung der ſogenannten „rudimentaͤren Organe“, derje- nigen Theile im Thier- und Pflanzenkoͤrper, welche eigentlich ohne Lei- ſtung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vorhanden ſind. Dieſe Theile erregen das allerhoͤchſte Jntereſſe, obwohl ſie den mei- ſten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt ſind. Faſt jeder Organismus, faſt jedes Thier und jede Pflanze, beſitzt neben den ſcheinbar aͤußerſt zweckmaͤßigen Einrichtungen ſeiner Geſammtorganiſation, eine Reihe von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzuſehen iſt. Beiſpiele davon finden ſich uͤberall. Bei den Embryonen mancher Wiederkaͤuer, unter Andern bei unſerm gewoͤhnlichen Rindvieh, ſte- hen Schneidezaͤhne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie- mals zum Durchbruch gelangen, alſo auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Wallfiſche, welche ſpaͤterhin die bekannten Bar- ten ſtatt der Zaͤhne beſitzen, tragen, ſo lange ſie noch nicht geboren ſind und keine Nahrung zu ſich nehmen, dennoch Zaͤhne in ihrem Kiefer; auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thaͤtigkeit. Ferner beſitzen die meiſten hoͤheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; ſelbſt der Menſch beſitzt ſolche rudimentaͤre Muskeln. Die Meiſten von uns ſind nicht faͤhig, ihre Ohren willkuͤrlich zu bewegen, obwohl die Muskeln fuͤr dieſe Bewegung vorhanden ſind, und obwohl es ein- zelnen Perſonen, die ſich andauernd Muͤhe geben, dieſe Muskeln zu uͤben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. Jn dieſen noch jetzt vorhandenen, aber verkuͤmmerten Organen, welche dem vollſtaͤndigen Verſchwinden entgegen gehen, iſt es noch moͤglich, durch beſondere Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthaͤtigkeit des Nerven- ſyſtems, die beinah erloſchene Thaͤtigkeit wieder zu beleben. Auch noch an anderen Stellen ſeines Koͤrpers beſitzt der Menſch ſolche rudimen- taͤre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung fuͤr das Leben ſind und niemals funktioniren. Zu den ſchlagendſten Beiſpielen von rudimentaͤren Organen gehoͤ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/31
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/31>, abgerufen am 21.11.2024.