Gegensatz der beiden grundverschiedenen Weltanschauungen.
welcher zwei sehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare besaß, so erklärt sich ganz einfach der verschiedene Grad der Verküm- merung und Rückbildung dieser Organe bei solchen Nachkommen des- selben, welche diese Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenso erklärt sich vollständig der verschiedene Ausbildungsgrad der ursprüng- lich (in der Blüthenknospe) angelegten fünf Staubfäden bei den La- biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieser Familie von einem gemeinsamen, mit fünf Staubfäden ausgestatteten Stammva- ter abstammen.
Jch habe Jhnen die Erscheinung der rudimentären Organe schon jetzt etwas ausführlicher vorgeführt, weil dieselbe von der allergrößten allgemeinen Bedeutung ist, und weil sie uns auf die großen, allge- meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philosophie und der Natur- wissenschaft hinführt, für deren Lösung Darwin's Theorie nun- mehr der unentbehrliche Leitstern geworden ist. Sobald wir nämlich, dieser Theorie entsprechend, die ausschließliche Wirksamkeit physikalisch- chemischer Ursachen ebenso in der lebenden (organischen) Körperwelt, wie in der sogenannten leblosen (anorganischen) Natur anerkennen, so räumen wir damit jener Weltanschauung die ausschließliche Herr- schaft ein, welche man mit dem Namen der mechanischen bezeichnen kann, und welche gegenübersteht der teleologischen Auffassung. Wenn Sie alle Weltanschauungsformen der verschiedenen Völker und Zeiten mit einander vergleichend zusammenstellen, können Sie dieselben schließlich alle in zwei schroff gegenüberstehende Gruppen bringen: eine causale oder mechanistische und eine teleologische oder vitalistische. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herrschend. Man sah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Produkte einer zweckmäßig wirksamen, schöpferischen Thätigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus schien sich zunächst unabweislich die Ueberzeugung aufzudrängen, daß eine so künstliche Maschine, ein so verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus ist, nur hervorgebracht werden könne durch eine Thätigkeit, welche analog, ob- wohl unendlich viel vollkommener ist, als die Thätigkeit des Menschen
Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen.
welcher zwei ſehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare beſaß, ſo erklaͤrt ſich ganz einfach der verſchiedene Grad der Verkuͤm- merung und Ruͤckbildung dieſer Organe bei ſolchen Nachkommen des- ſelben, welche dieſe Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenſo erklaͤrt ſich vollſtaͤndig der verſchiedene Ausbildungsgrad der urſpruͤng- lich (in der Bluͤthenknospe) angelegten fuͤnf Staubfaͤden bei den La- biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieſer Familie von einem gemeinſamen, mit fuͤnf Staubfaͤden ausgeſtatteten Stammva- ter abſtammen.
Jch habe Jhnen die Erſcheinung der rudimentaͤren Organe ſchon jetzt etwas ausfuͤhrlicher vorgefuͤhrt, weil dieſelbe von der allergroͤßten allgemeinen Bedeutung iſt, und weil ſie uns auf die großen, allge- meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philoſophie und der Natur- wiſſenſchaft hinfuͤhrt, fuͤr deren Loͤſung Darwin’s Theorie nun- mehr der unentbehrliche Leitſtern geworden iſt. Sobald wir naͤmlich, dieſer Theorie entſprechend, die ausſchließliche Wirkſamkeit phyſikaliſch- chemiſcher Urſachen ebenſo in der lebenden (organiſchen) Koͤrperwelt, wie in der ſogenannten lebloſen (anorganiſchen) Natur anerkennen, ſo raͤumen wir damit jener Weltanſchauung die ausſchließliche Herr- ſchaft ein, welche man mit dem Namen der mechaniſchen bezeichnen kann, und welche gegenuͤberſteht der teleologiſchen Auffaſſung. Wenn Sie alle Weltanſchauungsformen der verſchiedenen Voͤlker und Zeiten mit einander vergleichend zuſammenſtellen, koͤnnen Sie dieſelben ſchließlich alle in zwei ſchroff gegenuͤberſtehende Gruppen bringen: eine cauſale oder mechaniſtiſche und eine teleologiſche oder vitaliſtiſche. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herrſchend. Man ſah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Produkte einer zweckmaͤßig wirkſamen, ſchoͤpferiſchen Thaͤtigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus ſchien ſich zunaͤchſt unabweislich die Ueberzeugung aufzudraͤngen, daß eine ſo kuͤnſtliche Maſchine, ein ſo verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus iſt, nur hervorgebracht werden koͤnne durch eine Thaͤtigkeit, welche analog, ob- wohl unendlich viel vollkommener iſt, als die Thaͤtigkeit des Menſchen
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[14/0035]
Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen.
welcher zwei ſehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare
beſaß, ſo erklaͤrt ſich ganz einfach der verſchiedene Grad der Verkuͤm-
merung und Ruͤckbildung dieſer Organe bei ſolchen Nachkommen des-
ſelben, welche dieſe Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenſo
erklaͤrt ſich vollſtaͤndig der verſchiedene Ausbildungsgrad der urſpruͤng-
lich (in der Bluͤthenknospe) angelegten fuͤnf Staubfaͤden bei den La-
biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieſer Familie von
einem gemeinſamen, mit fuͤnf Staubfaͤden ausgeſtatteten Stammva-
ter abſtammen.
Jch habe Jhnen die Erſcheinung der rudimentaͤren Organe ſchon
jetzt etwas ausfuͤhrlicher vorgefuͤhrt, weil dieſelbe von der allergroͤßten
allgemeinen Bedeutung iſt, und weil ſie uns auf die großen, allge-
meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philoſophie und der Natur-
wiſſenſchaft hinfuͤhrt, fuͤr deren Loͤſung Darwin’s Theorie nun-
mehr der unentbehrliche Leitſtern geworden iſt. Sobald wir naͤmlich,
dieſer Theorie entſprechend, die ausſchließliche Wirkſamkeit phyſikaliſch-
chemiſcher Urſachen ebenſo in der lebenden (organiſchen) Koͤrperwelt,
wie in der ſogenannten lebloſen (anorganiſchen) Natur anerkennen,
ſo raͤumen wir damit jener Weltanſchauung die ausſchließliche Herr-
ſchaft ein, welche man mit dem Namen der mechaniſchen bezeichnen
kann, und welche gegenuͤberſteht der teleologiſchen Auffaſſung.
Wenn Sie alle Weltanſchauungsformen der verſchiedenen Voͤlker und
Zeiten mit einander vergleichend zuſammenſtellen, koͤnnen Sie dieſelben
ſchließlich alle in zwei ſchroff gegenuͤberſtehende Gruppen bringen:
eine cauſale oder mechaniſtiſche und eine teleologiſche oder
vitaliſtiſche. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein
herrſchend. Man ſah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als
Produkte einer zweckmaͤßig wirkſamen, ſchoͤpferiſchen Thaͤtigkeit an.
Bei dem Anblick jedes Organismus ſchien ſich zunaͤchſt unabweislich
die Ueberzeugung aufzudraͤngen, daß eine ſo kuͤnſtliche Maſchine, ein
ſo verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus iſt, nur
hervorgebracht werden koͤnne durch eine Thaͤtigkeit, welche analog, ob-
wohl unendlich viel vollkommener iſt, als die Thaͤtigkeit des Menſchen
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/35>, abgerufen am 21.11.2024.
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