Thierreichs (Taf. III.) ohne künstlichen Zwang eingereiht werden können. Diese interessanten und wichtigen Organismen sind die Ur- wesen oder Protisten. (Vergl. Taf. I.).
Sämmtliche Organismen, welche wir als Protisten zusammenfassen, zeigen in ihrer äußeren Form, in ihrem inneren Bau und in ihren ge- sammten Lebenserscheinungen eine so merkwürdige Mischung von thie- rischen und pflanzlichen Eigenschaften, daß sie mit klarem Rechte weder dem Thierreiche, noch dem Pflanzenreiche zugetheilt werden können, und daß seit mehr als zwanzig Jahren ein endloser und fruchtloser Streit darüber geführt wird, ob sie in jenes oder in dieses einzuordnen seien. Die meisten Protisten oder Urwesen sind von so geringer Größe, daß man sie mit bloßem Auge nur schwer oder gar nicht wahrnehmen kann. Daher ist die Mehrzahl derselben erst im Laufe der letzten fünfzig Jahre bekannt geworden, seit man mit Hülfe der verbesserten und allgemein verbreiteten Mikroskope diese winzigen Organismen häufiger beobachtete und genauer untersuchte. Aber sobald man dadurch näher mit ihnen vertraut wurde, erhoben sich auch alsbald endlose Streitigkeiten über ihre eigentliche Natur und ihre Stellung im natürlichen Systeme der Organismen. Viele von diesen zweifelhaften Urwesen wurden von den Botanikern für Thiere, von den Zoologen für Pflanzen erklärt; es wollte sie keiner von Beiden haben. Andere wurden umgekehrt sowohl von den Botanikern für Pflanzen, als von den Zoologen für Thiere erklärt; jeder wollte sie haben. Diese Widersprüche sind nicht etwa durch unsere unvollkommene Kenntniß der Protisten, sondern wirklich durch ihre wahre Natur bedingt. Jn der That zeigen die meisten Protisten eine so bunte Vermischung von mancherlei thie- rischen und pflanzlichen Charakteren, daß es lediglich der Willkür des einzelnen Beobachters überlassen bleibt, ob er sie dem Thier- oder Pflanzenreich einreihen will. Je nachdem er diese beiden Reiche definirt, je nachdem er diesen oder jenen Charakter als bestimmend für die Thier- natur oder für die Pflanzennatur ansieht, wird er die einzelnen Protisten- klassen bald dem Thierreiche bald dem Pflanzenreiche zuertheilen. Diese systematische Schwierigkeit ist aber dadurch zu einem ganz unauflöslichen
Das Reich der Protiſten oder Urweſen.
Thierreichs (Taf. III.) ohne kuͤnſtlichen Zwang eingereiht werden koͤnnen. Dieſe intereſſanten und wichtigen Organismen ſind die Ur- weſen oder Protiſten. (Vergl. Taf. I.).
Saͤmmtliche Organismen, welche wir als Protiſten zuſammenfaſſen, zeigen in ihrer aͤußeren Form, in ihrem inneren Bau und in ihren ge- ſammten Lebenserſcheinungen eine ſo merkwuͤrdige Miſchung von thie- riſchen und pflanzlichen Eigenſchaften, daß ſie mit klarem Rechte weder dem Thierreiche, noch dem Pflanzenreiche zugetheilt werden koͤnnen, und daß ſeit mehr als zwanzig Jahren ein endloſer und fruchtloſer Streit daruͤber gefuͤhrt wird, ob ſie in jenes oder in dieſes einzuordnen ſeien. Die meiſten Protiſten oder Urweſen ſind von ſo geringer Groͤße, daß man ſie mit bloßem Auge nur ſchwer oder gar nicht wahrnehmen kann. Daher iſt die Mehrzahl derſelben erſt im Laufe der letzten fuͤnfzig Jahre bekannt geworden, ſeit man mit Huͤlfe der verbeſſerten und allgemein verbreiteten Mikroſkope dieſe winzigen Organismen haͤufiger beobachtete und genauer unterſuchte. Aber ſobald man dadurch naͤher mit ihnen vertraut wurde, erhoben ſich auch alsbald endloſe Streitigkeiten uͤber ihre eigentliche Natur und ihre Stellung im natuͤrlichen Syſteme der Organismen. Viele von dieſen zweifelhaften Urweſen wurden von den Botanikern fuͤr Thiere, von den Zoologen fuͤr Pflanzen erklaͤrt; es wollte ſie keiner von Beiden haben. Andere wurden umgekehrt ſowohl von den Botanikern fuͤr Pflanzen, als von den Zoologen fuͤr Thiere erklaͤrt; jeder wollte ſie haben. Dieſe Widerſpruͤche ſind nicht etwa durch unſere unvollkommene Kenntniß der Protiſten, ſondern wirklich durch ihre wahre Natur bedingt. Jn der That zeigen die meiſten Protiſten eine ſo bunte Vermiſchung von mancherlei thie- riſchen und pflanzlichen Charakteren, daß es lediglich der Willkuͤr des einzelnen Beobachters uͤberlaſſen bleibt, ob er ſie dem Thier- oder Pflanzenreich einreihen will. Je nachdem er dieſe beiden Reiche definirt, je nachdem er dieſen oder jenen Charakter als beſtimmend fuͤr die Thier- natur oder fuͤr die Pflanzennatur anſieht, wird er die einzelnen Protiſten- klaſſen bald dem Thierreiche bald dem Pflanzenreiche zuertheilen. Dieſe ſyſtematiſche Schwierigkeit iſt aber dadurch zu einem ganz unaufloͤslichen
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Das Reich der Protiſten oder Urweſen.
Thierreichs (Taf. III.) ohne kuͤnſtlichen Zwang eingereiht werden
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weſen oder Protiſten. (Vergl. Taf. I.).
Saͤmmtliche Organismen, welche wir als Protiſten zuſammenfaſſen,
zeigen in ihrer aͤußeren Form, in ihrem inneren Bau und in ihren ge-
ſammten Lebenserſcheinungen eine ſo merkwuͤrdige Miſchung von thie-
riſchen und pflanzlichen Eigenſchaften, daß ſie mit klarem Rechte weder
dem Thierreiche, noch dem Pflanzenreiche zugetheilt werden koͤnnen, und
daß ſeit mehr als zwanzig Jahren ein endloſer und fruchtloſer Streit
daruͤber gefuͤhrt wird, ob ſie in jenes oder in dieſes einzuordnen ſeien.
Die meiſten Protiſten oder Urweſen ſind von ſo geringer Groͤße, daß
man ſie mit bloßem Auge nur ſchwer oder gar nicht wahrnehmen kann.
Daher iſt die Mehrzahl derſelben erſt im Laufe der letzten fuͤnfzig Jahre
bekannt geworden, ſeit man mit Huͤlfe der verbeſſerten und allgemein
verbreiteten Mikroſkope dieſe winzigen Organismen haͤufiger beobachtete
und genauer unterſuchte. Aber ſobald man dadurch naͤher mit ihnen
vertraut wurde, erhoben ſich auch alsbald endloſe Streitigkeiten uͤber
ihre eigentliche Natur und ihre Stellung im natuͤrlichen Syſteme der
Organismen. Viele von dieſen zweifelhaften Urweſen wurden von
den Botanikern fuͤr Thiere, von den Zoologen fuͤr Pflanzen erklaͤrt;
es wollte ſie keiner von Beiden haben. Andere wurden umgekehrt
ſowohl von den Botanikern fuͤr Pflanzen, als von den Zoologen fuͤr
Thiere erklaͤrt; jeder wollte ſie haben. Dieſe Widerſpruͤche ſind nicht
etwa durch unſere unvollkommene Kenntniß der Protiſten, ſondern
wirklich durch ihre wahre Natur bedingt. Jn der That zeigen die
meiſten Protiſten eine ſo bunte Vermiſchung von mancherlei thie-
riſchen und pflanzlichen Charakteren, daß es lediglich der Willkuͤr
des einzelnen Beobachters uͤberlaſſen bleibt, ob er ſie dem Thier- oder
Pflanzenreich einreihen will. Je nachdem er dieſe beiden Reiche definirt,
je nachdem er dieſen oder jenen Charakter als beſtimmend fuͤr die Thier-
natur oder fuͤr die Pflanzennatur anſieht, wird er die einzelnen Protiſten-
klaſſen bald dem Thierreiche bald dem Pflanzenreiche zuertheilen. Dieſe
ſyſtematiſche Schwierigkeit iſt aber dadurch zu einem ganz unaufloͤslichen
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/351>, abgerufen am 27.11.2024.
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