Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Bedeutung der Acyttarien für die Biologie. lich durch zahlreiche kleine Fenster geöffnet, aus denen der schleimigeKörper formwechselnde Scheinfüßchen ausstrecken kann. Und dennoch, trotz des außerordentlich verwickelten und zierlichen Baues dieser Kalk- paläste, trotz der unendlichen Mannichfaltigkeit in dem Bau und der Verzierung seiner zahlreichen Kammern, trotz der Regelmäßigkeit und Eleganz ihrer Ausführung, ist dieser ganze künstliche Palast das aus- geschwitzte Product einer vollkommen formlosen und structurlosen Schleimmasse! Fürwahr, wenn nicht schon die ganze neuere Anatomie der thierischen und pflanzlichen Gewebe unsere Plastidentheorie stützte, wenn nicht alle allgemeinen Resultate derselben übereinstimmend be- kräftigten, daß das ganze Wunder der Lebenserscheinungen und Le- bensformen auf die active Thätigkeit der formlosen Eiweißverbindun- gen des Plasma zurückzuführen ist, die Polythalamien allein schon müßten unserer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier können wir jeden Augenblick die wunderbare, aber unleugbare und zuerst von Dujardin und Max Schultze 24) festgestellte Thatsache durch das Mikroskop nachweisen, daß der formlose Schleim des weichen Plasma- körpers, dieser wahre "Lebensstoff", die zierlichsten, regelmäßigsten und verwickeltsten Bildungen auszuscheiden vermag. Dadurch lernen wir verstehen, wie derselbe "Urschleim", dasselbe Protoplasma, im Körper der Thiere und Pflanzen die verschiedensten Zellenformen er- zeugen kann. Von ganz besonderem Jnteresse ist es noch, daß zu den Poly- Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 22
Bedeutung der Acyttarien fuͤr die Biologie. lich durch zahlreiche kleine Fenſter geoͤffnet, aus denen der ſchleimigeKoͤrper formwechſelnde Scheinfuͤßchen ausſtrecken kann. Und dennoch, trotz des außerordentlich verwickelten und zierlichen Baues dieſer Kalk- palaͤſte, trotz der unendlichen Mannichfaltigkeit in dem Bau und der Verzierung ſeiner zahlreichen Kammern, trotz der Regelmaͤßigkeit und Eleganz ihrer Ausfuͤhrung, iſt dieſer ganze kuͤnſtliche Palaſt das aus- geſchwitzte Product einer vollkommen formloſen und ſtructurloſen Schleimmaſſe! Fuͤrwahr, wenn nicht ſchon die ganze neuere Anatomie der thieriſchen und pflanzlichen Gewebe unſere Plaſtidentheorie ſtuͤtzte, wenn nicht alle allgemeinen Reſultate derſelben uͤbereinſtimmend be- kraͤftigten, daß das ganze Wunder der Lebenserſcheinungen und Le- bensformen auf die active Thaͤtigkeit der formloſen Eiweißverbindun- gen des Plasma zuruͤckzufuͤhren iſt, die Polythalamien allein ſchon muͤßten unſerer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier koͤnnen wir jeden Augenblick die wunderbare, aber unleugbare und zuerſt von Dujardin und Max Schultze 24) feſtgeſtellte Thatſache durch das Mikroſkop nachweiſen, daß der formloſe Schleim des weichen Plasma- koͤrpers, dieſer wahre „Lebensſtoff“, die zierlichſten, regelmaͤßigſten und verwickeltſten Bildungen auszuſcheiden vermag. Dadurch lernen wir verſtehen, wie derſelbe „Urſchleim“, daſſelbe Protoplasma, im Koͤrper der Thiere und Pflanzen die verſchiedenſten Zellenformen er- zeugen kann. Von ganz beſonderem Jntereſſe iſt es noch, daß zu den Poly- Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 22
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Bedeutung der Acyttarien fuͤr die Biologie.
lich durch zahlreiche kleine Fenſter geoͤffnet, aus denen der ſchleimige
Koͤrper formwechſelnde Scheinfuͤßchen ausſtrecken kann. Und dennoch,
trotz des außerordentlich verwickelten und zierlichen Baues dieſer Kalk-
palaͤſte, trotz der unendlichen Mannichfaltigkeit in dem Bau und der
Verzierung ſeiner zahlreichen Kammern, trotz der Regelmaͤßigkeit und
Eleganz ihrer Ausfuͤhrung, iſt dieſer ganze kuͤnſtliche Palaſt das aus-
geſchwitzte Product einer vollkommen formloſen und ſtructurloſen
Schleimmaſſe! Fuͤrwahr, wenn nicht ſchon die ganze neuere Anatomie
der thieriſchen und pflanzlichen Gewebe unſere Plaſtidentheorie ſtuͤtzte,
wenn nicht alle allgemeinen Reſultate derſelben uͤbereinſtimmend be-
kraͤftigten, daß das ganze Wunder der Lebenserſcheinungen und Le-
bensformen auf die active Thaͤtigkeit der formloſen Eiweißverbindun-
gen des Plasma zuruͤckzufuͤhren iſt, die Polythalamien allein ſchon
muͤßten unſerer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier koͤnnen wir
jeden Augenblick die wunderbare, aber unleugbare und zuerſt von
Dujardin und Max Schultze 24) feſtgeſtellte Thatſache durch das
Mikroſkop nachweiſen, daß der formloſe Schleim des weichen Plasma-
koͤrpers, dieſer wahre „Lebensſtoff“, die zierlichſten, regelmaͤßigſten
und verwickeltſten Bildungen auszuſcheiden vermag. Dadurch lernen
wir verſtehen, wie derſelbe „Urſchleim“, daſſelbe Protoplasma, im
Koͤrper der Thiere und Pflanzen die verſchiedenſten Zellenformen er-
zeugen kann.
Von ganz beſonderem Jntereſſe iſt es noch, daß zu den Poly-
thalamien auch der aͤlteſte Organismus gehoͤrt, deſſen Reſte uns in
verſteinertem Zuſtande erhalten ſind. Dies iſt das vorher bereits er-
waͤhnte „kanadiſche Morgenweſen“, Eozoon canadense, welches vor
wenigen Jahren in der Ottawaformation (in den tiefſten Schichten des
laurentiſchen Syſtems) am Ottawafluſſe in Canada gefunden worden
iſt. Jn der That, durften wir uͤberhaupt erwarten, in dieſen aͤlteſten
Ablagerungen der Primordialzeit noch organiſche Reſte zu finden, ſo
konnten wir vor Allen auf dieſe einfachſten und doch mit einer feſten
Schale bedeckten Protiſten hoffen, in deren Organiſation der Unter-
ſchied zwiſchen Thier und Pflanze noch nicht ausgepraͤgt iſt.
Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 22
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